ARTISET Magazin | 4-5 2022

ARTISET 04/05 I 2022  15 Im Fokus Herr Thomas Müller * , Sie bereiten Jugendliche im Aus- bildungszentrum Steinhölzli auf eine möglichst rei- bungslose Integration in den ersten Arbeitsmarkt vor: Welche Vor- und Nachteile haben Ihrer Erfahrung nach die Praktische Ausbildung PrA und das Eidgenössische Berufsattest EBA im Vergleich? Beide Ausbildungsformen haben das Ziel, die Jugendlichen nach der Lehre in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Seit die Praktische Ausbildung nicht mehr ausschliesslich in Institutio- nen angeboten wird, sind beide Ausbildungen sehr gute Model- le: PrA ist eine sehr gute Einstiegsmöglichkeit für jene, die frü- her eine Anlehre gemacht hätten und schulisch die Anforderungen einer Attestlehre – noch – nicht erfüllen. Seit die PrA-Lernenden für den allgemeinbildenden Unterricht und den Sport die Berufsfachschule besuchen, hat sich auch für sie der erste Arbeitsmarkt geöffnet. Die Lehrgänge lassen sich gut miteinander kombinieren: PrA-Lernende können später eine Attestlehre machen und so über einen etwas längerenWeg viel- leicht sogar – wie geeignete EBA-Lernende auch – ein Eidge- nössisches Fähigkeitszeugnis erlangen. Was gilt es denn bei der Entscheidung für den jewei­ ligen Ausbildungsgang zu bedenken? In jedem Fall ist es wichtig, dass die Qualität der Ausbildung gesichert wird und die Lernenden nicht zwei Jahre lang irgend- wie beschäftigt werden, egal ob PrA oder EBA. Genau das bie- ten wir vom Steinhölzli:Wir achten darauf, dass Lehrplan und Qualität eingehalten werden, unterstützen die Lernenden und beraten die Betriebe, vor allem in Krisensituationen. Betriebe kommen oft ans Limit mit Erklären, Verständnis haben und Fördern. Das erklären wir den Lernenden und vermitteln so zwischen ihnen und den Betrieben, wenn es schwierig wird. Was sollten denn Ausbildungsbetriebe bedenken, wenn Sie PrA- oder EBA-Lehrstellen anbieten? Sie müssen sich bewusst sein, dass diese Lernenden einen beson- deren Bedarf an Strukturen haben und oft einen sehr klaren Rahmen brauchen. Die Verantwortlichen der Betriebe müssen wissen, dass diese Jugendlichen nicht einfach als Selbstläufer durch die Lehrzeit kommen, sondern dass sie mehr Zeit und Betreuung benötigen:Was EFZ-Lernende nach einmal erklären verstehen, können EBA-Lernende manchmal nach dreimal noch nicht, PrA-Lernende vielleicht erst nach dem zehntenMal. PrA oder EBA – welches Modell bietet den Jugend­ lichen die besseren Chancen? Bei uns absolvieren 70 bis 80 Prozent der Lernenden eine Prak- tische Ausbildung. Gegenwärtig sehe ich dort fast die grösseren Chancen, besonders seit es für einige Berufe den Individuellen Kompetenznachweis gibt: So werden die Kompetenzen dieser Jugendlichen klar erkennbar, und spätere Arbeitgebende können sie genau für diese besonderen Nischen einsetzen. Bei den Attest­ lehren besteht das Risiko, dass Arbeitgebende den Eindruck haben, die Jugendlichen könnten ja dies oder jenes. Hapert es dann, führt das auf beiden Seiten zu Enttäuschungen. Bei einer PrA hingegen wird eindeutig klar, dass die Jugendlichen nicht ‹fast dasselbe› können wie jene mit einer EFZ-Ausbildung. Dafür zeigen gerade diese Jugendlichen oft grosse Ausdauer, arbeiten sorgfältig und sehr motiviert. Das ist ein grosser Gewinn. Besteht nicht die Gefahr, dass Jugendliche manchmal fast vorschnell auf eine Praktische Ausbildung aufge- gleist werden, weil das die einfachste Lösung scheint? Das erlebe ich gar nicht so: Das wird in jedem Fall genau ab- geklärt und überprüft. Ganz im Gegenteil drängen viele Eltern unbedingt auf eine EBA-Lehre, auch wenn diese schulisch gar nicht bewältigbar ist. Wir zeigen ihnen dann, welch grossen Wert eine PrA hat und wie gut sie den Zugang zu Arbeit und Weiterbildung gemäss UN-BRK gewährleistet. Also kann man von einem Erfolgsmodell sprechen… Ja, unbedingt. Ich begrüsse deshalb eineWeiterentwicklung von PrA Insos zu PrA Schweiz, damit nicht alle denken, PrA werde ausschliesslich von Institutionen angeboten. Und damit ver- mehrt Unternehmen für dieses Ausbildungsmodell gewonnen werden können, auch in ländlichen Gegenden. Es geht gar nicht darum zu werten, ob eine PrA in einer Institution oder in einem Unternehmen besser ist, sondern darum, jeweils die bestenWege und Lösungen zu finden: Vielleicht führt derWeg eines Lernen- den erst mit 35 aus einer Institution hinaus in den ersten Arbeitsmarkt. Aber dann war jeder Schritt wichtig.  * Thomas Müller ist Direktor des Ausbildungszentrums Steinhölzli Bildungswege in Köniz BE, wo jährlich rund 70 Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren ausgebildet werden. «Jeder Schritt in den ersten Arbeitsmarkt ist wichtig» Steinhölzli Bildungswege ➞ www.steinhoelzli.ch

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