ARTISET Magazin | 4-5 2022
18 ARTISET 04/05 I 2022 Im Fokus Aufträge fristgerecht erledigenmuss: Dieser hat oft nicht Zeit, sich noch um die psy chische Belastung eines Lernenden zu kümmern, und er ist auch nicht dafür ausgebildet, sondern versucht das einfach im Alltag irgendwie zu managen. Notlö sungen, beispielsweise die Abmachung, dass der oder die Lernende 10 Prozent weniger arbeiten muss, helfen oft nur scheinbar und höchstens vorübergehend: Die Leistung muss ja trotzdem erbracht werden, allerdings in noch weniger Zeit. Das gibt Jugendlichen, die schon Druck haben, bloss noch mehr Druck. Was wäre also für diese Jugend lichen hilfreicher? Das ist der zentrale Punkt: Jugendliche mit psychischen Schwierigkeiten benöti gen eigentlich mehr Zeit. Sie müssen am Morgen eine Stunde später anfangen dürfen, wenn sie in der Nacht schlecht schlafen. Oder einen Nachmittag mehr frei erhalten, um in dieser Zeit eine The rapie besuchen zu können. Da lassen sich zwar mit gutem Willen gute individuel le Lösungen finden. Vor allem aber sollte die ganzheitliche Einstellung ändern. Die Verkürzung einer Lehre auf zwei Jahre EBA kommt eigentlich quer: Statt dessen sollten genau die Lehren für junge Menschen mit besonderen Bedürfnissen – kognitiv oder psychisch – nicht kürzer dauern, sondern im Gegenteil sogar ein Jahr länger. Das würde bedeuten, dass sie mehr Zeit für weniger Lehrstoff und ein Jahr zusätzliche Unterstützung erhalten, beispielsweise für die überbetrieblichen Kurse. Das ist aber noch keineswegs spruchreif, denn alle sehen immer nur die Kosten. Dabei geht es ja um das ganze Arbeitsleben: Es ist doch ein Riesenziel, etwas zu finden, das einen zufrieden macht. Müssten denn Ausbildende sich ihrer Rolle bewusster werden und besser auf die Jugendlichen ach ten? Sie können die Lernenden darin bestär ken, sich bei Schwierigkeiten Unterstüt zung zu suchen und ihnen dann eben die dafür nötige Zeit zur Verfügung stellen: Damit ermöglichen sie den Jugendlichen, an einem Unterstützungsangebot der Berufsfachschule teilzunehmen oder Zeit für eine Therapie zu finden. Hilfreich ist zudem, wenn die Ausbildenden von An fang an ihre Erwartungen an die Jugend lichen transparent kommunizieren und diese schon früh ansprechen, sobald sie Auffälligkeiten feststellen. Solche Mass nahmen erachte ich als wichtiger als die zurzeit sehr beliebten Coachings: Dort ist die Versuchung gross, sich zurückzu lehnen und sich eben «coachen zu lassen». Das Ziel sollte jedoch Hilfe zur Befähi gung sein, nicht ein Abhängigmachen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht! Was wäre also stattdessen «gut ge macht»? Alle Massnahmen sollten die Jugend lichen gezielt resilient machen – nicht abhärten, aber sie befähigen. Das ist die grosse Chance des Individuellen Kompe tenznachweises, der auf dem aufbaut, was Jugendliche können. Ich hoffe sehr, dass dieser noch mehr Schub erhält. Was sonst sollte die Zukunft Ihrer Meinung nach idealerweise bringen? Wir müssen die Jugendlichen rechtzeitig auffangen, Problemfälle lösen, damit nicht viele auf die irreführende Idee kommen, das Gymnasium sei beispiels weise für Jugendliche mit psychischen Problemen der einfachere, «weichere» Weg: Stattdessen müsste der Berufsbera tungsprozess so gut laufen, dass gezielt ein Weg gefunden werden kann. Auf www. anforderungsprofile.ch lässt sich bereits eine erste Auswahl treffen, und dann sollte gezielt nach Neigung und Eignung abgeklärt werden. Sehr sinnvoll wäre es, in diesem Prozess auch gleich die psychi sche Belastbarkeit zu messen und geeig nete Berufsfelder zu finden: Wir haben die Möglichkeiten und die Mittel, wir müssen es nur machen. Sie hingegen machen beruflich kei ne grossen Schritte mehr: Sie sind Ende März pensioniert worden… Ja, aber ich bin als aktives Mitglied von Rotary – einer weltweiten Service-Orga nisation, die gemeinnützige Ziele ver folgt – gut vernetzt und habe bereits eine Vision für die Unterstützung von Jugend lichen und Lehrbetrieben: Ich möchte engagierte Pensionierte aus diversen Branchen für ein Unterstützungsnetz werk gewinnen, damit sie Jugendliche mit psychischen oder anderen Problemen ein wenig unter die Fittiche nehmen und ganz praktisch im Alltag unterstützen. Diese Seniorinnen und Senioren wären auch gute Ansprechpartner für die Betriebe, weil sie aus Erfahrung wissen, was Aus bilden im Alltag bedeutet. Mir ist näm lich auch weiterhin sehr wichtig, alle Seiten für eine solide Berufsausbildung zu motivieren und allen zu sagen: Bitte tragt Sorge zu unserem guten System und nützt die Chance! * Christine Davatz, 64, Fürsprecherin und Notarin, war jahrzehntelang Vizedirektorin des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv mit Spezialgebiet Bildungspolitik, Ende März 2022 wurde sie pensioniert. Sie ist unter an derem Mitglied des Fachhochschulrats der FHNW, der eidgenössischen Berufsbildungs kommission EBBK und der Schweizerischen Hochschulkonferenz und des schweizeri schen Hochschulrats. Sie wird ebenfalls an der Fachtagung (Kasten Seite 17) teilnehmen. ➞ Individueller Kompetenznachweis IKN: kompetenznachweis.ch Inklusiv plus Studie «Umgang mit psychisch belasteten Lernenden» Weiterführende Informationen
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