ARTISET Magazin | 4-5 2022

ARTISET 04/05 I 2022  27 Sprechen Sie hier auf eine kleintei- ligere Organisation der Arbeit an? Es geht darum, die ganze Arbeit neu zu denken. Die Verantwortlichen müssen die Abläufe so definieren, dass es auch Drei-und nicht nur Zwölf-Schritt-Aufgaben gibt. Und dann geht es darum, sich zu überlegen, wie man die Mitarbei­ tenden einsetzen kann. Eine solche neue Arbeitsorganisation im Pflege- und Sozi­ albereich könnte dann auch zu einer Entlastung der gut Ausgebildeten führen, die sich auf die anspruchsvollen Tätigkei­ ten konzentrieren können. Dieses Neu-Denken von Arbeitsab- läufen lässt sich auf viele Branchen ausweiten? Das ist beliebig multiplizierbar. Wir machen die Erfahrung, dass Betriebe, die in der Lehrlingsausbildung erfolgreich sind, sehr gut darin sind. Für einen 16-jährigen Lernenden muss die Arbeit auch stark portioniert werden. Zudem brauchen Lernende wiederholte Erklä­ rungen. Unsere Wirtschaft ist also in der Lage, Menschen mit Teilleistungsfähig­ keiten zu beschäftigen. Zurück zum ergänzenden Arbeits- markt: Die Behindertenorganisa­ tionen kritisieren die tiefen Löhne, die geringen Aufstiegschancen und die fehlenden Wahlmöglichkeiten. Was entgegnen Sie? Was die tiefen Löhne betrifft: Mitarbei­ tende mit Unterstützungsbedarf können keinen existenzsichernden Lohn erzielen. Das ist unschön, aber es ist so. Sie sind deshalb auf eine IV-Rente angewiesen. Wir machen in der Valida konkret die Erfahrung, dass unsere Mitarbeitenden einen Lohn für eine bestimmte Leistung wollen und nicht eine Rente. Wir zahlen aktuell einen Durchschnittslohn von rund 1100 Franken. Maximal sind 2800 Franken möglich. Diese Lohnhöhe kann aber zu einer Kürzung der Rente führen, wodurch die Mitarbeitenden am Ende des Tages wieder gleich viel Geld im Sack haben wie alle anderen auch, die nicht arbeiten. In aller Regel fallen bei hohen Löhnen für Arbeitnehmende mit IV als Erstes die EL weg. Das heisst, dass die Löhne des sozialen Unternehmens nicht den Arbeitnehmenden mit IV zu­ gute kommen, sondern die EL-Rechnung des Kantons entlasten. Von höheren Löhnen profitieren also vor allem Bund und Kantone, sie bringen aber den Mitarbeiten- den nichts und führen dazu, dass ihre Gewinne schmelzen… Jemand, der eine IV-Rente bezieht und arbeitet, müsste mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Es müsste eine Art Bonus geben. Eine bessere Leistung müsste zu­ dem zu höheren Löhnen führen. Wir haben bei uns ein Lohnsystem, bei dem jemand, der eine bessere Leistung bringt, auch mehr verdienen kann. Wir sind auch daran, ein System zu entwickeln, bei dem jemand eine Hilfsgruppenleitung übernehmen kann und dadurch mehr verdient. Die Mitarbeitenden haben aber eben dennoch nicht mehr Geld zur Ver­ fügung, und gleichzeitig besteht die Ge­ fahr, dass wir finanzielle Probleme haben. Ich bin überzeugt: Ein Sozialunter­ nehmen kann über den Lohn hinaus sehr viel bieten. Wo liegt der Mehrwert eines Sozial- unternehmens? Die Menschen, die in einem Sozialunter­ nehmen arbeiten, haben eine Tagesstruk­ tur, eine Berufsidentität, ein Arbeitsum­ feld und leisten einen Beitrag zur Wirtschaft. Damit verbunden ist auch ein soziales Umfeld, sie können zudem eine berufliche Entwicklung machen, Weiterbildungen besuchen sowie Freizeit- und Kulturangebote buchen. Im Lauf der letzten Jahre hat sich auch die Vielfalt der Berufe stark entwickelt. Mitarbeitende im ergänzenden Arbeitsmarkt haben heute eine riesige Wahlmöglichkeit. Ge­ rade hier zielt die Kritik der Behinder­ tenorganisationen völlig ins Leere. Sie werben sehr bewusst für ein positiveres Image von Sozialunter- nehmen? Es ist eine grosse Leistung unserer Gesell­ schaft, dass teilleistungsfähige Menschen an einem Ort arbeiten können, der sich nicht vollständig über ihre wirtschaftli­ che Tätigkeit finanzieren muss. Wir hal­ ten Menschen in der Gesellschaft, wir ermöglichen Chancen, weil sie bei uns gesund bleiben oder gesund werden kön­ nen. Sie können sich persönlich und be­ ruflich entwickeln, Kolleginnen und Kollegen haben, aktiv einen Beitrag an die Gesellschaft leisten. Das ist ein Mehr­ wert, den wir uns leisten sollten. Wir machen das auch bei der Landwirtschaft: Die Schweiz ist bereit, die Landwirt­ schaft mit viel Geld zu subventionieren, weil wir in der Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen, einen Mehrwert sehen. Wird es den ergänzenden Arbeits- markt immer geben? Es wird immer Leute geben, die auf ein solches unterstützendes Setting angewie­ sen sind. Ich warne davor zu glauben, dass es den ergänzenden Arbeitsmarkt einmal nicht mehr brauchen wird. Aber es besteht ein grosses Potenzial, noch mehr Menschen in den offenen Arbeitsmarkt zu begleiten, wenn endlich die Rahmen­ bedingungen weiterentwickelt und opti­ miert werden. Dabei sind in erster Linie die Kantone mit ihren Gesetzgebungen im Behindertenbereich gefordert, sich endlich zu bewegen. Dann könnten wir als spezialisierte Dienstleister für Men­ schen mit Unterstützungsbedarf nämlich einen zeitgemässen Beitrag leisten an die Chancengerechtigkeit im Sinne der UN- BRK.  * Beda Meier ist Direktor des sozialen Unter­ nehmens Valida in St. Gallen und Präsident der Kommission Arbeitswelt des Branchen- verbands Insos. «Ich halte nicht sehr viel von einer gesetzlichen Verpflichtung der Arbeitgebenden mittels Quoten.» Beda Meier

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