ARTISET Magazin | 4-5 2022
38 ARTISET 04/05 I 2022 Aktuell von Lebensqualität und Entscheidungsfindung. Persönliche Assistenz, wie sie beispielsweise der Assistenzbeitrag der IV ermöglicht, gestaltet sich zwar in gewissen Punkten anders, dennoch sollten auch Erwachsene, welche in Wohngemein- schaften einer Stiftung wohnen, Assistenz erhalten und nicht «betreut» werden. Abschluss einer Assistenzvereinbarung Das neu erarbeitete Konzept Assistenz stärkt Transparenz und Einbezug: Das in möglichst einfacher Sprache verfasste Konzept wird neu allen Interessierten überreicht. Berichte und Protokolle werden immer auch den Direktbetroffenen und gesetzlichen Vertretungen abgegeben. Die Erarbeitung der Dokumente erfolgt im individuell gestalteten Dialog. Im Konzept werden bei allen Angeboten die Selbstbestim- mungs- und Mitbestimmungsrechte definiert, sodass das Konzept das Vertragsverhältnis mitdefiniert. So wird zum Beispiel auch das Vorgehen bezüglich freier Zimmer in Wohngemeinschaften, wo die Mitbestimmung aus fakti- schen Gründen im institutionellen Rahmen nur teilweise möglich ist, im Konzept beschrieben. Im Jahresprozess findet wie bisher eine unabhängige Zu- friedenheitsbefragung der Personen statt, danach ein Jahres- gespräch, an dem der Assistenzbericht und neu die Assis- tenzvereinbarung (siehe Kasten) besprochen werden. Da die Instrumente für ganz unterschiedliche Personen funktionie- ren sollen, sind im Konzept auch Anleitungen für die Hand- habung enthalten, zum Beispiel zu unterstützter Kommu- nikation oder stellvertretenden Entscheidungen. «Ich schätze, dass ich mitreden kann» Die äusserst positiv aufgenommene Schulung zum neuen Konzept wurde im Frühling 2021 pandemiebedingt als Videoschulung mit einem individuell zu bearbeitenden Workbook durchgeführt. Thematisiert wurden dabei auch Formulierungen, Rollenverständnis sowie Umgang mit Wünschen und Zielen. Die bestehende Schulung hat nun den positiven Nebeneffekt, dass Neueintretende diese zeitnah und in gleicher Qualität absolvieren können. Im September 2021 wurde der Prozess initiiert und zu diesem Zweck physische Austauschveranstaltungen in kleineren Gruppen durchgeführt. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Instrumente auch in der Praxis anwendbar sind und dass sie positiv ankommen: Eine Mitarbeiterin der Abteilung Ausrüsterei erklärt: «Ich finde das alles gut. Ich schätze, dass ich mitreden kann.» Die Eltern und Beistände eines Mitarbeiters haben sich für das Erstellen der Assistenzvereinbarung für den Bereich Arbeit bedankt und finden diese sehr gut abgefasst. Ein Mitarbeiter der Abteilung Mechanik bezeichnete die Anpassung der Be- griffe als «sehr gut und lange überfällig». Er schrieb weiter: «Ich fühle mich sehr schlecht und diskriminiert, wenn von Behinderung gesprochen wird.» Eine Mitarbeiterin der Ab- teilung Kunsthandwerk fand besonders gut, «dass das Wort ‹Betreuung› verschwindet», und eine Bewohnerin schrieb: «Ich schätze, dass ich Assistenzaufträge geben kann.» Auch für die Assistenzpersonen sind die neuen Prozesse gut um- setzbar. Ein aufwendiger Prozess, der sich lohnt Für die Erarbeitung des neuen Konzepts haben wir uns für einen intensiven Austausch mit entsprechendem Aufwand entschieden. Nebst mehr als 25 Themengruppensitzungen haben alle Mitglieder an vielen Entwürfen gearbeitet sowie Tests und Umfragen durchgeführt. Hilfreich war, dass ein Mitglied als Projektmitarbeiterin spezielle Zeitressourcen hatte und den wesentlichsten Teil der Instrumentenerarbei- tung übernehmen konnte. Wir sind stolz auf das Erreichte, die intensiven, engagier- ten Auseinandersetzungen und die positiven Reaktionen. Die auf unserem bisherigen agogischen Konzept aufbauen- de Konzeption ist Teil einer wertvollen Entwicklung. Wir sind uns bewusst, dass wir noch weitere Vertiefungen und reflexive Auseinandersetzung benötigen, insbesondere hin- sichtlich der komplexen Frage, was Selbstbestimmung für Personen mit stark eingeschränkter Kognition und Kommu- nikation bedeutet und wie dies auf Handlungsebene und in der Interaktion umgesetzt wird. Wir freuen uns auf denWeg, der vor uns liegt. * Rainer Hartmann ist Geschäftsführer der Stiftung Domino. Den Beitrag hat er zusammen mit weiteren Mitgliedern der Arbeitsgruppe verfasst: Rahel Schmid, Sandra Egli, Peter Keller und Raphael Inderkum. Infos zum Konzept Assistenz: ➞ www.stiftung-domino.ch/wohnen-arbeiten/assistenz DIE ASSISTENZVEREINBARUNG In den verschiedenen Lebensbereichen werden sowohl für den Bereich Arbeit wie Wohnen die wesentlichen Assistenzleistun- gen gemeinsam vereinbart. Darin zeigt sich ein entscheidender Aspekt des neuen Konzepts: Es ist nicht mehr einseitig die Insti- tution, die aus ihrer Sicht Leistungen festlegt oder grundsätzlich eine umfassende Betreuung/Verantwortlichkeit delegiert erhält, sondern es finden eine Diskussion und eine Vereinbarung auf Augenhöhe statt. Damit klären sich auch Auftrag und gegen- seitige Erwartungen. Pro Bereich wird die Art der Assistenz ausgewählt und auch grafisch abgestuft (von keiner Assistenz bis Übernahme der Handlung). Die Intensität wird im Bogen mit einem Buchsta- benkürzel mit erfasst, angelehnt an die Dokumentation für den Kanton (IBB). Damit ist die Assistenzvereinbarung auch diesbezüglich kongruent und hilfreich – und spart zusätzlichen Dokumentationsaufwand.
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