42 ARTISET 04/05 I 2023 eine aktivierende Unruhe und meldet sich telefonisch bei der Beistandschaft. Er erfährt, dass seine Beiständin erst in der kommenden Woche wieder erreichbar ist. In seiner finanziellen Not und dem daraus resultierendem hilflos aggressiven Aufruhr sagt er der doch noch erreichten Beiständin am Telefon: «Muss ich Ihnen erst eine Waffe an den Kopf halten, dass sie mir zuhören?» Obwohl er sich gleich für seine völlig verfehlte Wortwahl entschuldigt, haben seine Worte dramatische Konsequenzen. Seine Wohnung wird in der Folge von mehreren Polizeibeamten durchsucht, er selbst dabei in Handschellen gelegt. Es erübrigt sich zu sagen, dass keine Waffe gefunden wurde. Einige Wochen später bekommt er einen Strafbefehl über mehrere hundert Franken. Zumindest dies wäre meiner Auffassung nach vermeidbar gewesen. Ich habe in der Woche nach dem Vorfall mit der betroffenen Beiständin telefoniert und angeboten, dass Geschehen gemeinsam zu reflektieren. Das Angebot wurde dankend abgelehnt mit der Begründung, vor der Tätigkeit als Beiständin habe sie 20 Jahre in der Psychiatrie gearbeitet und wisse, wie in solchen Situationen zu handeln und dem aggressiven Menschen Grenzen zu setzen seien. Mit dieser Einstellung konnte es zu keiner Begegnung auf Augenhöhe kommen. Es wurde die Chance vertan, gemeinsam zu reflektieren, wie es zur Eskalation kommen konnte und an welchen Stellen andere Handlungsoptionen möglich gewesen wären. Das gemeinsame Innehalten und Reflektieren hätten vermutlich den Strafbefehl verhindern können. Sicher wäre aber beiden Beteiligten ein konstruktiver Erkenntnisgewinn ermöglicht worden. Und dem Menschen mit der psychiatrischen Diagnose hätte es die Chance gegeben, aus dem eigenen Fehlverhalten zu lernen und eben nicht nur neuerliche Beschämung und Demütigung zu erfahren, die das aggressiv-resignative Potenzial nährt. Aber das Beispiel zeigt auch: Es ist freiwillig, innezuhalten und Verhalten zu reflektieren. Es ist viel vertrauter, das eigene Verhalten zu rechtfertigen und das des anderen infrage zu stellen. Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte bleiben so unberücksichtigt und unreflektiert. Ich halte es jedoch für eine Grundvoraussetzung, dass jene Menschen, die dafür bezahlt werden, anderen hilfreich zur Seite zu stehen, für ihre Tätigkeit Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft bindend mitzubringen haben. Wir sehen, die jeweilige Begegnung im Hilfekontext hat wesentlichen Einfluss, wie und mit welchen Folgen die Hilfe wirksam wird. Im Teufelskreis gefangen Dazu das zweite Fallbeispiel: eine in einer sozialpsychiatrischen Institution wohnende Frau, Anfang 50, mit diversen psychiatrischen Diagnosen, schwer übergewichtig, auf einen Rollstuhl angewiesen und mit deutlichem Pflegebedarf. In ihrer Lebensgeschichte hat sie sehr viele massive Grenzverletzungen erlebt. Sie trägt viel Schmerz, Wut und Trauer in sich. Eine zentrale kompensatorische Strategie ist ihr schon früh das Essen geworden. Dies ist wiederum ein Faktor, der auch früh zu Übergewicht geführt hat, was wiederum Anlass für Beschämung und Demütigung war – ein Teufelskreis. Sie hat so ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Trauer in Begegnungen immer wieder verschleudert. Im aufgeführten Beispiel kam es nun dazu, dass ihr schon von der zweiten Institution der Wohnplatz aufgrund «aggressiven und distanzlosen Verhaltens» gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kurzfristig gekündigt wurde. Neue Möglichkeiten zur Deeskalation Erst die gemeinsame Reflexion mit Verantwortlichen der Institution wie auch mit der Bewohnerin ermöglichte ein Innehalten und eine neue Haltung in einer schwierigen Situation. Wir konnten gemeinsam reflektieren, wie es zu diesem aggressiven und distanzlosen Verhalten in der Begegnung gekommen ist. Dies ermöglichte allen Beteiligten, Verständnis für das Geschehen aufzubringen und in der Folge neue Möglichkeiten zur Deeskalation zu erschliessen. Im konkreten Fall konnte die Bewohnerin in der Institution bleiben, bis sie eine neuerliche Zusage und einen Aufnahmetermin für einenWohnplatz an der ersten Institution bekam, wie es ihr Wunsch gewesen war. Diese Institution hatte die Wiederaufnahme aufgrund der Vorerfahrungen zunächst abgelehnt. Erst die gemeinsame Reflexion mit dem Team der Wohngruppe über die Situationen, in denen es zur Verhaltenseskalation kam, ermöglichte die Zusage. Andere Möglichkeiten der Begegnung und Strategien zu Deeskalation waren besprochen worden. Die Begleitung in dem folgenden Prozess mit den immer wieder manifesten herausfordernden Situationen und deren gemeinsame Reflexion hat in eine verständnisvollere Kultur der Begegnung geführt. Es zeigt sich, Erfahrungen in der Begegnung hinterlassen Spuren. Wir alle sind verletzlich und auch fehlbar. Wesentlich ist es, beides zu reflektieren. Wir können aus Fehlern lernen, wenn wir sie bewusst reflektieren. Auch die Spuren, die Grenzverletzungen hinterlassen haben, und die daraus resultierenden Verhaltensmuster können uns durch die Reflexion bewusst werden. Heilsamer Wandel wird möglich. Was braucht es, dass ein Mensch, der in eine Instabilität geraten ist, wieder eine sinnvolle Orientierung, neues Vertrauen und innere Sicherheit finden kann? Wir können uns in der Begegnung von dieser Frage leiten lassen. Gemeinsame Reflexion führt dabei zu einem Erkenntnisgewinn, lehrt, in der Begegnung bewusster zu werden und zu handeln. Dafür engagiere ich mich. * Uwe Bening, 64, ist dipl. Psychologe mit einer eigenen Praxis. Er bietet Supervision, Fall- und Fachberatung an
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