Fachkräfte gewinnen und behalten

ARTISET 04/05 I 2023 49 ging es hier darum, zu verstehen was es bedeutet, im Kreis zu reden. Mit der Hilfe eines Balls, den sie einander weitergaben, haben sich die Bewohnenden rasch daran gewöhnt, nacheinander zu sprechen, einander zuzuhören und aufmerksam zu bleiben. An ihrer ersten Kreisversammlung sammelten die Bewohnerinnen und Bewohner Themen, die für sie wichtig sind, etwa die Berücksichtigung der Privatsphäre, die gegenseitige Rücksichtnahme sowie das Bedürfnis, sich über Erfahrungen mit Medikamenten auszutauschen. Die Verantwortlichen desVeränderungsprozesses unterstützten die Bewohnenden dabei, die Bedürfnisse hinter pauschalen Aussagen zu finden und zu formulieren. Dies schaffte eine Atmosphäre von Ruhe und gegenseitigem Verständnis. In der Abschlussrunde der ersten Kreisversammlung wurde deutlich, dass die meisten Bewohnerinnen und Bewohner ausgesprochen motiviert waren. «Es interessiert mich, was andere meinen», hiess es etwa. Oder: «Schön und lehrreich, wenn jeder etwas sagt, um sich besser kennenzulernen.» «Gut, dass Entscheide gemeinsam getroffen werden – dann ist es leichter, sich daran zu halten.» Motivation und Engagement In der Auswertung waren InstitutionsleiterinMägi Knaus und das Team überrascht von positiven Verlauf der Kreisversammlung. Sitzungen mit den Bewohnenden waren früher oft chaotisch und angriffig verlaufen. Sobald Bewohnende einander zuhören, schafft dies Verständnis füreinander, zum Beispiel, wenn eine Bewohnerin sagt: «Ich will beim Putzen nicht gestört werden, denn ich habe Angst, dass ich dann wütend werde und zuschlagen könnte.» Eine Folge der ersten Erfahrungen war, dass für die Kreisversammlungen der Traktandenpunkt «Infos/Mitteilungen» eingeführt wurde: Werden Themen und Anliegen in den Kreisversammlungen der Bewohnenden besprochen, lohnt es sich für diese, daran teilzunehmen und sich einzubringen. Waren Motivation und Engagement bereits an den ersten beiden Kreisversammlungen hoch, kam es an der dritten Versammlung zu einer weiteren Steigerung: Der kritische Bewohner P., der in den ersten beiden Versammlungen nur kurz dabei war und dann «die Post holen musste…», war von Anfang an entspannt und blieb die ganze Sitzung dabei. Die Bewohnerin O., die bisher ärgerlich und unmutig war («Ich sage nichts…!») war ausgesprochen auskunftsfreudig und beteiligte sich konstruktiv. Mägi Knaus und die Autorin dieses Beitrags staunten, wie rasch sich die Bewohnenden auf die neuen Prozesse einliessen, zum Beispiel als es darum ging, in einer Soziokratischen Wahl eine Delegierte aus dem Kreis der Bewohnerinnen und Bewohner in den übergeordneten Allgemeinen Kreis zu wählen. Inklusiver Aufnahmeprozess Die Bewohnerinnen und Bewohner werden auch in den Aufnahmeprozess von neuen Bewohnerinnen und Bewohnern miteinbezogen. Im Zentrum steht dabei eine Art Kennenlernrunde, in der jede und jeder von sich erzählt, auch über schwierige Lebensphasen und Ereignisse. In einer weiteren Runde äussern sich dann alle, was ihnen an der neu interessierten Person gefällt, wo sie Schwierigkeiten sehen – auch im Hinblick auf das Zusammenwohnen. Ein Beispiel: Bei einem Neuinteressierten war es zunächst schwierig, ihm eine Probezeit zu ermöglichen: So hatte eine bisherige Bewohnerin Mühe mit dem Hund, den er mitbrachte, andere Bewohnende merkten aber, dass dieser für ihn sehr wichtig war. Im Konsentverfahren wurde dann eine Lösung gefunden: Der Hund darf nicht in die Küche, nicht auf Sofas und nicht imWG-Auto mitfahren, er darf sich aber im Haus aufhalten. * Christine Krämer ist Leiterin von The Sociocracy Group (TSG) Schweiz. Sie ist Beraterin für Organisationsentwicklung, zertifizierte Soziokratieexpertin und Sozialpädagogin mit langjähriger Erfahrung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. DIE SOZIOKRATISCHE KREISORGANISATIONSMETHODE (SKM) Das Modell ermöglicht Partizipation aller, und zwar in UN-BRK-geeigneter Form. Ein Kernelement ist der Entscheidungsprozess im «Konsent». Grundsatzentscheidungen kommen im Konsentverfahren zustande. «Konsent» bedeutet: Die Teilnehmenden haben keinen schwerwiegenden Einwand gegen einen Entscheid, sie können zumindest damit leben. Es finden keine Abstimmungen statt – und damit bestimmt auch nicht eine Mehrheit über eine Minderheit. Wichtige Entscheide werden auf diese Weise von allen mitgetragen und auch mitverantwortet. Das empfohlene Verfahren für diesen Prozess ist das Reden im Kreis, wodurch jeder und jede die Möglichkeit hat, etwas zu sagen. Ein weiteres wichtiges Element sind die Delegierten der einzelnen Kreise. Diese werden von den Kreismitgliedern im Konsentverfahren gewählt. Sie vertreten im nächsthöheren Kreis die Anliegen des eigenen Kreises und nehmen dort am Konsententscheidungsprozess teil.

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