Partizipative Führung hat Zukunft | Magazin ARTISET | 6 2022
14 ARTISET 06 I 2022 Im Fokus Kreismethode entwickelt. Er gründete ein Soziokratiezentrum, das die Soziokratie innerhalb und ausserhalb von Holland fördert. Soziokratie, die «Herrschaft der Gefährten», ist seither in vielen Organi- sationen auf der ganzen Welt eingeführt worden. In der Schweiz ist das Modell vor allem in sozial engagierten Organi- sationen beliebt. Die klassische soziokra- tische Kreismethode hat dann weitere Entwicklungen erfahren. Können Sie diese Entwicklungen kurz skizzieren? Ein Unternehmer der IT-Branche aus den USA entwickelte 2007 auf der Basis der Soziokratischen Kreismethode die Holokratie, die «vollständige Herrschaft». Das Modell wird weniger im Non-Pro- fit-Bereich, sondern allgemein in der Unternehmenswelt umgesetzt. Für die Umsetzung braucht es eine Lizenz. An- ders ist dies bei der Soziokratie 3.0. Zwei Autoren und eine Autorin haben ab 2015 deren Eckwerte beschrieben und stellen sämtliche Unterlagen frei zur Verfügung. Ihre Überlegungen fussen auf der bisheri- gen Entwicklung der Soziokratie. Im Unterschied zur soziokratischen Kreisme- thode und auch zur Holokratie erfordert Soziokratie 3.0 keine grundlegende Reor- ganisation. Soziokratie 3.0 ist vielmehr eine Sammlung bester Praxis zu einer effektiven Zusammenarbeit in Gruppen, aus der sich eine Organisation je nach Bedarf bedienen kann. Gibt es gewisse strukturelle Ge- meinsamkeiten aller drei genannten Modelle? Wichtig in allen drei Modellen ist, dass Entscheide im Konsens zustande kommen. Begründete Einwände müssen, wie be- reits erwähnt, geklärt respektive integ- riert werden, bevor entschieden wird. Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal sind die mit bestimmten Entscheidbefugnissen ausgestatteten Kreise respektive Teams oder Projektgruppen. Rollen und Funk- tionen innerhalb der Gruppen, im Ide- alfall auch die Teamleitungen, werden in offenenWahlen bestimmt. Die einzelnen Teams oder Kreise sind zudem doppelt verknüpft, das heisst: Je ein Kreismitglied ist im anderen Kreis vertreten, nimmt dort an der Beschlussfassung teil und ver- tritt diese Beschlüsse in seinem eigenen Team. Wo verorten Sie innerhalb der agilen Organisationsmodelle das Lean-Management, dessen Ursprünge Mitte des letzten Jahrhunderts in der japanischen Autoindustrie liegen? Lean-Management bedeutet «Werte ohne Verschwendung schaffen». Ziel ist es, alle Aktivitäten, die für die Wertschöpfung notwendig sind, optimal aufeinander abzustimmen und überflüssige Tätigkei- ten zu eliminieren. Diese Denkweise floss sicher in den Anspruch der Effektivität ein, welches eines der Prinzipien in der Soziokratie 3.0 ist. Ein weiteres Prinzip wurde beispielsweise mit den kontinuier- lichen Verbesserungsprozessen übernom- men. Zu welchem Vorgehen raten Sie Organisationen, die agile Arbeits- formen einführen möchten? Organisationen sollen sich Zeit nehmen, in die Agilität hineinzuwachsen und be- stimmte Elemente einfach mal ausprobie- ren. Man könnte zum Beispiel damit beginnen, Sitzungen anders zu leiten. Eine nach soziokratischen Richtlinien geführte Sitzung lässt alle im Kreis herum zuWort kommen. Das ändert viel an der Kultur. Man weiss, dass man zu Wort kommt und gehört wird. Ziel ist ein wert- schätzendes, gleichberechtigtes Miteinan- der. Wir sind in der Arbeitswelt oft ganz anders sozialisiert worden und müssen neue Muster lernen. Wichtig scheint mir die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Wahrscheinlich braucht es auch eine Or- ganisationsbegleitung, um das umfang- reiche Wissen sinnvoll in das eigene Un- ternehmen zu transferieren. Sie betonen die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen… Ein wichtiger Grund für die Einführung agiler Arbeits- und Organisationsformen ist ja gerade, dass man zu Beginn eines Prozesses oft gar nicht so genau weiss, wie das Endprodukt im Detail ausschauen muss. Die der Agilität verpflichteten Ar- beitsmethoden zielen darauf, schrittweise zu neuen Ideen und Produkten zu gelan- gen. Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der Einführung der Agilität. Es geht darum, zu starten und zu schauen, wo- hin der Prozess einen führt. * Martin Diethelm, Jahrgang 1973, ist Berater und Partner der Beratungsgruppe für Ver- bands-Management (B’VM AG). Er studierte Soziologie, ist Ausbilder mit eidg. Fachaus- weis, NPO-Manager VMI und hat ein Diplom in Themenzentrierter Interaktion TZI nach Ruth Cohn. Aktuell bildet er sich in Sozio kratie 3.0 weiter. «Organisationen sollen sich Zeit nehmen, in die Agilität hineinzu- wachsen und bestimmte Elemente einfach mal ausprobieren.» Martin Diethelm
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