Partizipative Führung hat Zukunft | Magazin ARTISET | 6 2022

ARTISET 06 I 2022  17 Der Fondation Saphir gehören rund zwanzig geriatrische, psychogeriatrische und psychiatrische Einrichtungen an, darunter zwei Alzheimer-Wohngemeinschaften, eine Spi- tex-Organisation und betreutes Wohnen. Ihre rund 660 Mitarbeitenden betreuen im Bezirk Jura-Nord Vaudois fast tausend Klientinnen und Klienten. Der lebendige und innovative Geist der Fondation Saphir offenbart sich in neu geschaffenen Strukturen wie den Alz- heimer-Wohngemeinschaften. Oder er kommt nach und nach durch Initiativen zur Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe an den verschiedenen Standorten der Stiftung zum Ausdruck. Der Innovationswille findet sich auch in der Strategie 2018–2023 der Fondation Saphir wieder, die auf drei Schwerpunkten basiert: hervorragende Leistungen er- bringen, ein vorbildlicher Arbeitgeber sein und Mut haben zu einer verantwortungsbewussten Unternehmensführung bezüglich Leistungsangebot. Ein Mittel zum Paradigmenwechsel Im Zusammenhang mit dem dritten strategischen Schwer- punkt entwickelt die Fondation Saphir ein personenzent- riertes Betreuungskonzept, das sich an die Grundsätze der agilen Unternehmensführung anlehnt. «Nicht die Agilität an sich ist unser Ziel», erklärt David Favre, Leiter Entwick- lung und Innovation. «Sie ist ein Mittel für den Paradig- menwechsel. Das heisst: nicht mehr für andere denken, und die Organisation den Leistungen anpassen und nicht um- gekehrt.» Im Sinne dieser Agilität geht es nun darum, «aus der Technokratie auszusteigen, die administrativen Belange zu reduzieren, die Fachkräfte am Puls der Entscheidungen einzusetzen und die Verantwortlichkeiten in die Praxis zu übertragen». Den Worten folgen Taten: Das im März 2021 eröffnete Alterspflegeheim Montchoisi probiert das perso- nenzentrierte Betreuungskonzept aus. Es kann mit dem Schlagwort «wie zu Hause» zusammengefasst werden, wel- ches das Leben im Heim sehr treffend beschreibt: flexible Essenszeiten, rund um die Uhr verfügbare Snacks, ein Coif- feursalon, Wellness, ein Ort, wo alle nach ihrem individu- ellen Rhythmus leben können. Das Angebot an Abendak- tivitäten ist gestiegen und die Medikamentenabgabe gesunken. Im Montchoisi gibt es keine «Bewohnende», sondern «Wohnende». Diese können sich auf Wunsch an den Hausarbeiten beteiligen und bei der Wahl des Mobiliars, der Beschilderungen oder der Alltagsgestaltung mitreden. Sie sollen generell bei möglichst vielen Entscheidungen ein- bezogen werden. «Das Fördern der Lebensqualität beginnt mit der Freiheit zu wählen», betont David Favre. Das PflegeheimMontchoisi verfügt über 82 Langzeitpfle- geplätze auf drei Stockwerken. Das architektonische Projekt wurde vor gut zehn Jahren ausgearbeitet und würde heute für das neue Betreuungsmodell sicher nicht mehr gewählt. Um sich bestmöglich den Bedürfnissen der im Montchoisi Wohnenden anpassen und eine individuelle Betreuung ge- währleisten zu können, wurden pro Stockwerk zwei mitei- nander verbundene «Wohngemeinschaften» für je vierzehn Personen geschaffen. Das fördert die Zusammenarbeit und ermöglicht den Transfer guter Praxis. «Es sind keine Pflege- einheiten, denn im Vordergrund soll das Leben stehen», erklärt David Favre. Autonome Teams, die rasch entscheiden Die Teams in denWohngemeinschaften sind interdisziplinär, vielseitig, flexibel und autonom. Sie sind agil und treffen Entscheidungen rasch. An ihren Sitzungen nimmt auch das für das ganze Haus zuständige Personal teil, also auch die Mitarbeitenden aus Küche und Restauration. Bei der All- tagsgestaltung und dem Einrichten der Gemeinschaftsräu- me beziehen die Teams alle ein, die imMontchoisi wohnen. EinTeam besteht aus etwa zehn Mitarbeitenden, welche die Dienstpläne, Aufgabenverteilung oder Materialverwaltung ohne administrative Schwerfälligkeit und kleinliche Forma- litäten unter sich absprechen. Unterstützt werden sie von internen Coaches und Pflegefachleuten, die eine verbinden- de Funktion ausüben. Eine Art «fachliche Leitungspersonen» werden künftig die Teams unterstützen – nicht als Vorge- setzte, sondern als Fachexperten. Nach Angaben des Innovationsleiters David Favre und des Generaldirektors Luis Villa erweist sich das Modell in Bezug auf die Kommunikation, Koordination und Führung als anspruchsvoll. Durch den neuen Ansatz erhält die Arbeit zwar (wieder) einen Sinn, und die Verantwortung kann auf alle Stufen verteilt werden, aber die Suche nach Lösungen erfordert ständige Anpassungen, Diskussionen und Kom- promisse. Auch die Motivation der verschiedenen Personen spielt eine wesentliche Rolle. «Manchmal liegen wir falsch, doch das bringt uns vorwärts, denn an Fehlern wächst man», versichert Favre. Generaldirektor Villa seinerseits ist über- zeugt, dass das im Pflegeheim Montchoisi entwickelte Mo- dell Saphir mit seiner personenzentrierten Praxis und den neu organisierten Wohngemeinschaften auch auf andere Einrichtungen ausgeweitet werden kann.   Marie Antoinette Cattin Germond geniesst die neue flexible Wohnform des Pflegeheims Montchoisi: Hier ist sie «Wohnende», nicht Bewohnerin. Foto: Michel Duperrex Wie sich das Modell Montchoisi in der Evalua- tion bewährt, lesen Sie auf den nächsten bei- den Seiten.

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