Partizipative Führung hat Zukunft | Magazin ARTISET | 6 2022
ARTISET 06 I 2022 21 Das Haus Selun und Movero, im sanktgallischenWalenstadt gelegen, gehört zum OVWB, dem Ostschweizer Kompe- tenzzentrum für Menschen mit einer Körperbehinderung oder Hirnverletzung. Das Haus Selun bietet 22 Wohnplät- ze sowie Tagesstrukturangbote ausschliesslich für Menschen mit einer Hirnverletzung an, Movero bietet Tagesstruktur- plätze für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigun- gen an, die zu Hause leben. Auch wenn die beiden Angebo- te mit ihren rund 60 Mitarbeitenden Teil des OVWB sind, sind sie doch einzigartig. Und zwar in der Art ihrer Führung: 2017 haben sie das soziokratische Kreisorganisationsmodell (SKM) eingeführt – und bekennen sich seither zu einer par- tizipativen Führungskultur. Sie waren in der Schweiz Pio- niere dieses Organisationsmodells, das in den 1970er-Jahren in Holland konzipiert worden ist. Mitarbeitende hinterfragten Entscheide Der Anstoss, neue Entscheidungswege einzuführen, kam dabei von der langjährigen Chefin selbst. Brigitta Buomber- ger prägt seit 15 Jahren als Institutionsleiterin die Geschicke der beiden OVWB-Standorte. Seit Einführung der Sozio- kratie aber mit einem neuen Führungsverständnis. «Ich verspürte eine Müdigkeit aufgrund des Widerstandes von Mitarbeitenden, die unsere Entscheide immer wieder hin- terfragt haben», erinnert sich Buomberger. Dies, obwohl sie doch die Mitarbeitenden immer miteinbezogen hatte. «Ich lernte aber dann den Unterschied zwischen Mitsprache und Mitentscheidung kennen», sagt sie. Im Rahmen einer Su- pervision kam sie mit dem Konsentprinzip in Kontakt, eines mehrerer Prinzipien der Soziokratie. In einem durch eine Moderationsleitung strukturierten Vorgehen kommen dabei Grundsatzbeschlüsse gemeinsam zustande. Die Soziokratie liess sie nicht mehr los. Gemeinsam mit zwei Bereichsleitungen absolvierte sie ein Ausbildungsmodul am Soziokratie Zentrum Schweiz. Mittlerweile ist Buom- berger eine von drei zertifizierten Soziokratieexpertinnen hierzulande. Auf den Besuch der Module folgte eine Kickoff-Veranstaltung für alle Mitarbeitenden vom Haus Selun und Movero, die auf sehr positives Echo stiess. Buom- berger: «Die Mitarbeitenden wünschten sich besonders mehr Transparenz und eine konsequente Überprüfung ge- troffener Entscheide.» Ein Pilotprojekt wurde durchgeführt – und die Soziokratie in den beiden Angeboten schliesslich eingeführt. Auf Anklang stiess und stösst die neue Führungs- kultur durchaus auch bei der OVWB-Geschäftsleitung. Wenn die Soziokratie in einer bestehenden Organisation eingeführt werde, bedeute dies nicht die Abschaffung der bestehenden Bereiche und Führungsfunktionen, unter- streicht Buomberger. Im Haus Selun und Movero ist denn auch die typische soziokratische Kreisstruktur über das Or- ganigramm gelegt worden. Es gibt einen kleineren Team- kreis (Ergotherapie), drei grössere Bereichskreise (Wohnen, Tagesstruktur, Facilitymanagement) sowie den Leitungs- respektive Stammkreis. All diese Kreise haben ihren klar definierten Entscheidungsbereich. Die im Konsentverfahren erarbeiteten Entscheide werden immer von jenem Kreis gefasst, der von diesen Entscheiden direkt betroffen ist. «Vom Stammkreis werden nur jene Themen verhandelt, die mehrere Bereiche betreffen.» Offene Wahlen für mehrere Rollen Gerade an den Kreisversammlungen der grösseren Bereichs- kreise sind – nebst den Leitungspersonen – nicht alle Mit- arbeitenden anwesend, sondern mehrere Vertreterinnen und Vertreter, die zuvor an einer Vollversammlung für eine be- stimmte Zeit als Delegierte gewählt worden sind. Ganz entscheidend ist die Überlappung der Kreise: Um sicherzu- stellen, dass die Entscheide aus dem nächsthöheren Kreis vom eigenen Kreis mitgetragen und ausgeführt werden kön- nen, nehmen aus dem Team- respektive den drei Bereichs- kreisen immer die Delegierten an den Versammlungen des Stammkreises teil. Buomberger: «Die Delegierten entschei- den gleichwertig wie die Leitungspersonen mit und vertreten die Entscheide in ihren eigenen Kreisen.» Auch wenn die soziokratische Organisation im Haus Selun und Movero von oben ernannte Leitungspersonen kennt, finden für mehrere Rollen die für eine Soziokratie typischen offenen Wahlen statt: Die delegierten Personen, die Funktion der Gesprächsleitung, die Protokollführung sowie die Logbuchführung werden von den Kreisversamm- lungen für einen bestimmten Zeitraum gewählt. Im Log- buch werden dabei sämtliche Entscheide festgehalten und für alle Mitarbeitenden transparent einsehbar. Die langjährige Institutionsleiterin Brigitta Buomberger gab den Anstoss zur Einführung der Soziokratie. Foto: OVWB Die soziokratische Kreis- struktur ist im Haus Selun und Movero über das Orga- nigramm gelegt worden. Institutionsleiterin Brigitta Buomberger zieht auf Seite 23 Bilanz der ersten fünf Jahre Soziokratie.
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