ARTISET 06 I 2023 45 Eine digitale Memorybox für Kinder und Jugendliche, die in Institutionen oder bei Pflegeeltern aufwachsen, erfüllt gleich einen doppelten Zweck: Den jungen Menschen ermöglicht sie, wichtige Erinnerungen bei jedem Umzug unkompliziert mitzunehmen. Den Fachleuten gibt sie Hinweise darauf, welche Erlebnisse überhaupt Gefühle von Zugehörigkeit prägen. Von Claudia Weiss Leer liegt die digitale Seite da, einfach und ohne Schnickschnack gestaltet, stets bereit für Tagebucheinträge aller Art: Die eigens entwickelte Memorybox soll künftig Kindern und Jugendlichen offenstehen, die in Institutionen oder Pflegefamilien aufwachsen. Dort können sie Texte, Fotos, Audios und Videos hochladen – gesammelte wichtige Momente aus dem Lauf ihrer jungen Jahre. Entwickelt wurde die digitale Box von Fachleuten von der Berner Fachhochschule BFH unter der Co-Leitung von Andrea Abrahamund Emanuela Chiapparini, Professorinnen am Institut Kindheit, Jugend und Familie der BFH Soziale Arbeit, zusammen mit dem nationalen Branchenverband Youvita. Der Sinn dahinter: Erinnerungsstücke wie Schatzkisten, Lagerbücher oder Glücksbringer, wie sie viele Institutionen gemeinsam mit ihren jungen Klientinnen und Klienten erstellen, können bei einem Umzug in eine andere Institution, zu Pflegeeltern oder zurück ins Elternhaus nur allzu leicht verlorengehen. Das sei sehr schade, sagt Andrea Abraham: «Die gesammelten Erinnerungen können fremdplatzierten jungen Menschen, deren Jugend von Ortswechseln und Beziehungsabbrüchen geprägt wird, dabei helfen, ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln.» Das sei für Kinder und Jugendliche, die zuhause wenig Halt finden, besonders wertvoll. Werden wichtige Erinnerungsstücke zusätzlich fotografiert und in die digitale Memorybox hochgeladen, so die Idee, können sie jederzeit und überallhin mit den Kindern und Jugendlichen mitreisen. Gleichzeitig wollen Andrea Abraham und ihre Studienkolleginnen und -kollegen untersuchen, welche Erlebnisse und Lebensumstände ein Gefühl von Zugehörigkeit prägen. Ob und wie weit die spezielle Memorybox dabei helfen kann, Hinweise zu finden, wird sich in der auf drei Jahre angelegten Studie unter demTitel «Zugehörigkeit aus der Sicht von fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen» zeigen. Für die Kinder und Jugendlichen steckt der grosse Gewinn der Memorybox darin, dass sie dank der App, zu der nur sie persönlich mittels Passwort Zugriff haben, jederzeit und von überall her in ihrem virtuellen Tagebuch blättern oder neue Einträge erstellen können. In einer Timeline sehen sie untereinander alle Einträge samt Bildern aufgereiht. Diese führen übersichtlich durch die Jahre – wie ein roter Faden. Katzenfreude, Seilpark oder Kummer Andrea Abraham zeigt an einem virtuellen Beispiel, wie das aussehen könnte: Der fiktive Alexander hat ein Foto von seinen Katzen hochgeladen, die kürzlich Junge bekommen haben, und dazu geschrieben, wie sehr er sich freut, diese am Wochenende zu sehen. Eine Woche später fand die Geburtstagsfeier seines Kollegen Stefan statt – ein unbeschwertes kleines Fest, wie das Foto mit Schokoladentorte zeigt. Darunter ist ein Bild aus dem Seilpark zu sehen, den Alexanders Wohngruppe im Frühsommer besuchte. Klickt man den Beitrag an, gelangt man auf ein kurzes Video, das ein Kollege gedreht hat, als Alexander sich auf einen kniffligen Seilpfad wagte. Hinter dem nächsten Foto, das zwar bunte Partydeko zeigt, verbirgt sich ein unfrohes Ereignis: Das Abschiedsfest von Miro, einem Mitbewohner, der in eine andere Institution weiterzog, was Alexander «mega traurig» stimmte, wie es neben dem Bild heisst. Eine Abfolge also von verschiedenartigen Erlebnissen und Eindrücken, die schnell sichtbar werden sollen, damit die Memorybox nicht mehr aus abstrakten Seiten besteht. «Sie muss nicht zur lückenlosen Dokumentation werden», betont Andrea Abraham. «Sie zeigt eine Sammlung bedeutsamer Momente, traurige ebenso wie glückliche.» In einem ersten Testlauf mit 19 Kindern und Jugendlichen – 16 leben in Institutionen, 3 zuhause – zeigte sich: Das Prinzip funktioniert. Ganz am Anfang sassen die jungen Probandinnen und Probanden etwas ratlos vor der Seite: Ein attraktives Tagebuch sieht anders aus. Und hätte man den Kindern und Jugendlichen Papier und Stifte bereitgelegt, wäre der Einstieg viel intuitiver gewesen, dessen war Abenteuer im Seilpark: Solche Einträge mit Videos und Fotos machen die digitale Memorybox lebendig. Und weil die Kinder und Jugendlichen von überallher Zugang haben, gehen ihnen wichtige Erinnerungen bei einem Umzug nicht verloren. Foto: Adobe Stock
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