ARTISET 06 I 2023 49 verstehbar zu machen. Herausfordernde Situationen sind jedoch für alle Beteiligten sehr anstrengend, und oft wird ihnen der kommunikative Gehalt abgesprochen. Wie also können Menschen innerhalb der sehr engen Strukturen einer IB in ihrer Teilhabe und Selbstwirksamkeit gestärkt werden? Ein alternativer Weg führt über mehr kommunikative Teilhabe im Alltag. Hier können Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen aktiv ansetzen und mitgestalten: Mehr kommunikative Teilhabe beginnt mit der Reflexion der eigenen, kommunikativen Privilegien. Fachpersonen kommunizieren, bewusst oder unbewusst, in vielen Situationen auf einer «Hinterbühne», die nur ihnen zugänglich ist: Das können schnelle Absprachen zum Tagesablauf, zu Aufgaben und Zuständigkeiten sein, aber auch einfach Smalltalk unter Kolleginnen und Kollegen. Diese «Hinterbühne» ist legitim und Teil des professionellen Handelns. Sie trägt mitunter auch zur Entspannung von Fachpersonen bei, in einem sonst sehr anspruchsvollen Begleitalltag. Problematisch wird es, wenn sich Fachpersonen kommunikativ im Beisein der Bewohnerinnen und Bewohner abgrenzen, wenn diesen der Zugang verwehrt wird, an Gesprächen teilzunehmen. Wenn Menschen sinnbildlich danebenstehen und «Zaungäste» bleiben: Als Personen, die nicht am Gespräch beteiligt werden. Das kommt zum Beispiel vor, wenn Fachpersonen Absprachen in öffentlichen Räumen der Wohngruppe treffen. Es ist wichtig, zu wissen, dass sich diese sehr vertraute Kommunikationsbühne zwischen Fachpersonen sehr schnell etablieren kann. Kommt eine weitere Fachperson hinzu, so kann ein Gespräch zwischen einer Bewohnerin oder einem Bewohner und einer Begleitperson unvermittelt enden. Hier wirkt nicht nur die verbale Kommunikation, sondern auch die körperbezogene. Unter anderem spielen Synchronie-Effekte eine Rolle, Fachpersonen schwingen sich kommunikativ sehr niederschwellig aufeinander ein. Auch Objekte sind Bestandteile von Interaktionen, etwa das Diensttelefon – ein Anruf genügt, und die institutionelle Bühne der Fachpersonen ist etabliert. Gäste in der Lebenswelt der Bewohnenden Im Bewusstsein der eigenen, kommunikativen Privilegien und im achtsamen Umgang damit ist eine hohe kommunikative Kompetenz gefragt. Das Ziel sollte es sein, Bewohnerinnen und Bewohner immer wieder kommunikativ einzubinden. Zum Beispiel ein einladender Schritt zur Seite kann Bewohnende nonverbal kommunikativ teilhaben lassen und die Kommunikationsbühne der Fachpersonen zugänglicher machen. Sind Absprachen unvermeidbar, können sich Fachpersonen in die dafür vorgesehenen Räume zurückziehen. .Die Haltung, dass Fachpersonen Gäste in der Lebenswelt der Bewohnenden sind, sich also in ihren Privaträumen bewegen, kann zur Sensibilisierung beitragen. Ebenso die Haltung, dass Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen im Auftrag von Menschen mit Beeinträchtigungen Dienstleistungen in Form der benötigten Unterstützung erbringen. Institutionelle Strukturen überdenken Kommunikative Teilhabe erfordert von den sozialpädagogischen Fachpersonen Sensibilität, Haltung und kommunikative Kompetenz. Wie wäre es, wenn Bewohnende das kommunikative Grundrecht hätten, alles erfahren und fragen zu dürfen, was im öffentlichen Bereich ihrer Wohngruppen besprochen wird? Das würde bereits vieles verändern. Weitere Möglichkeiten liegen darin, dass der Kommunikationsgehalt herausfordernder Situationen anerkannt wird: Die Bewohnerinnen und Bewohner haben etwas zu sagen, dabei benutzen sie vielfach auch eine körperliche und objektbezogene Sprache. Wenn ein umgestürzter Stuhl ein Problem ist, helfen wir ihnen, neue Wege zu finden, ihr Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Wie genau könnte eine neue Kommunikationskultur aussehen? Fragen wir die Bewohnerinnen und Bewohner, oder schauen wir genau hin. Es wird Wege geben, diese Kultur gemeinsam zu realisieren. Das wird nicht gehen, ohne eigene, kommunikative Privilegien abzubauen und institutionelle Strukturen zu überdenken: Den Menschen mit Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen sollten mehr Erfahrungsräume ausserhalb der Institution ermöglicht werden. Für Bewohnende fehlen vielfach kommunikative Settings, die nicht von Mitarbeitenden moderiert werden. Die in der UN-BRK begründete Forderung nach Deinstitutionalisierung kann zumindest in einem ersten Schritt folgendermassen realisiert werden: die klare Trennung der Lebensbereiche Wohnen, Arbeit/Beschäftigung und Freizeit. Entscheidend ist dabei auch die Aufteilung von Unterstützungsleistungen auf unterschiedliche Organisationen. * Dr. Widukind Gernot Zenker ist Dozent und Kursleiter an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik Luzern von Artiset Bildung. Widukind Gernot Zenker: Die Bühne herausfordernder Situationen in einer Intensivbetreuung. Eine qualitative, videogestützte Analyse sozialer Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen im institutionalisierten Alltag, Klinkhardt Forschung 2023.
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