Das Leben selbst bestimmen | Magazin ARTISET 6-2024

ARTISET 06 I 2024 13 Im Fokus Jean-Marie Voirol empfängt uns in seiner 2,5-Zimmer-­ Wohnung im dritten Stock der Seniorenresidenz Les Bennelats im Herzen der Stadt Porrentruy (JU). Der 91-Jährige war der erste Mieter dieser neuen Residenz. Seit der Eröffnung am 1. Dezember 2023 wohnt er hier. Die 48 betreuten Wohnungen der Seniorenresidenz Les Bennelats gehören zur Gruppe Les Pénates, die ihren Namen den römischen Schutzgöttern des Haushalts verdankt. Dieses 2022 von der Gemeinde Porrentruy gegründete Unternehmen umfasst auch das Pflegeheim Les Planchettes, das Tageszentrum Le Bois Husson sowie den Spitex-Dienst Seraino. Der Eingangsbereich der Wohnung führt in ein grosses Wohnzimmer mit integrierter und voll ausgestatteter Küche. In diesem hellen und geräumigen Raum bewegt sich unser Gastgeber mühelos mit dem Rollator, denn seine Knie tragen ihn nicht mehr allein, wie er uns erklärt. Vom Wohn- und vom Schlafzimmer aus hat er Zugang zu einer Loggia mit Blick auf die belebte Strasse, den Park und die Geschäfte im Quartier. Aus seinem alten Zuhause hat Jean-Marie Voirol mehrere Möbel mitgenommen: einen Sessel, ein Sofa, einen Schrank, eine Anrichte, einen Tisch, Stühle – alles Bezugspunkte, die von einem langen Lebensweg zeugen. Ein Porträt seiner Frau, ein grosses Familienfoto und ein Bild, auf dem eine Dorfstrasse und im Hintergrund sein Elternhaus zu sehen sind, zieren die weissen Wände. «Ich fühle mich hier zu Hause», sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Eigentlich war geplant, dass er hier zusammen mit seiner Frau einzieht. Doch leider hat sich ihre Gesundheit so stark verschlechtert, dass ein Eintritt ins Pflegeheim Les Planchettes für sie die bessere Wahl war. «Für mich war das Pflegeheim zu früh», betont Jean-Marie Voirol. «Ich bin noch gesund, ich schätze meine Autonomie, will mich frei bewegen und selbst über mein Leben entscheiden können. Hier sind alle frei, niemand wird zu etwas gezwungen.» Er geht gerne einkaufen und kocht selbst, besucht aber auch regelmässig seine Frau im Pflegeheim, um dort gemeinsam mit ihr zu Mittag zu essen. Unbestrittene Vorteile Um bei unserem Besuch nichts zu vergessen, hat Jean-Marie Voirol im Vorfeld auf einem Zettel alles notiert, was ihm am Leben in der Seniorenresidenz gefällt – ohne dabei auf eine bestimmte Reihenfolge zu achten: eine durchdachte Wohnung mit allem Nötigen und guter Schalldämmung, eine ideale Lage im Stadtzentrum und eine schöne Aussicht auf das Schloss. Hinzu kommt ein interner Fernsehkanal – «wie im Hotel» – mit Informationen zum Wetter des Tages, zu den verfügbaren Menüs der Woche, den angebotenen Aktivitäten und der Belegung der drei auf die Stockwerke verteilten Gemeinschaftsräume, die den Mieterinnen und Mietern zur Verfügung stehen. Ausserdem schätzt der kontaktfreudige Mann neue Begegnungen und die Aktivitäten, an denen er jeden Montag- und Donnerstagnachmittag teilnehmen kann: Filme, Spiele, Vorträge, Ausflüge und sogar Übungen zum Gedächtnistraining. In seinen Augen liegen die Vorteile auf der Hand, und er versteht nicht, warum ältere Menschen mit kleineren Gesundheitsproblemen zögern, in eine betreute Wohnung zu ziehen. Jean-Marie Voirol war von Anfang an überzeugt von dieser Wohnform. Der ehemalige Gemeindepräsident von Porrentruy hat sich immer für die Entwicklung von Betreuungseinrichtungen für diverse Zielgruppen mit Unterstützungsbedarf eingesetzt. So ab dem Ende der 1980er-Jahre auch für den Bau des Heims Les Planchettes. Heute ist es ein Pflegeheim, was allerdings nicht immer der Fall war. Bei der Eröffnung im Jahr 1992 und bis 1998 bestand die Einrichtung aus Studios mit Badezimmer und Kochnische für relativ selbstständige Menschen im Rentenalter. Damals sprach man noch nicht von einer Seniorenresidenz, das Prinzip war aber sehr ähnlich. «Schon vor 30 Jahren beschäftigte man sich mit dem Erhalt der Autonomie von Menschen im Alter», berichtet Julien Loichat, Direktor des Unternehmens Les Pénates. Eine Residenz von und für Senioren Die Konzeption der Seniorenresidenz Les Bennelats ist weder ein Zufall, noch haben sie die Projektierenden aus dem Hut gezaubert. Noch bevor der erste Grundstein gelegt wurde, war sie Gegenstand eines partizipativen Ansatzes unter der Leitung des Senior Labs – einer interdisziplinären Plattform für Innovation und angewandte Forschung mit Sitz in Lausanne, die von drei Waadtländer Hochschulen gegründet wurde: dem Institut et Haute École de la Santé La Source, der Haute École d’Ingénierie et de Gestion du Canton de Vaud (HEIG-VD) und der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL). «Ziel war es, das Projekt zusammen mit potenziellen zukünftigen Mieterinnen und Mietern zu entwickeln», erklärt Rafael Fink, «Die Selbstbestimmung der Menschen zu respektieren, bedeutet, ihnen zuzuhören, sie zu verstehen, ihre Anliegen zu berücksichtigen und in die Realität umzusetzen. Nur so kann es funktionieren.» Julien Loichat, Direktor des Unternehmens Les Pénates

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