Das Leben selbst bestimmen | Magazin ARTISET 6-2024

20 ARTISET 06 I 2024 Selbstbestimmung ist das Zusammenspiel von Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit. Gemäss Jean-Michel Bonvin* setzt das Selbstbestimmungsrecht vulnerabler Menschen ein angemessenes Umfeld voraus, das Einschränkungen kompensiert und zur Handlung befähigt. Er befasst sich mit diesem Thema unter Anwendung des Befähigungsansatzes, der die Voraussetzungen schaffen soll, damit jeder Menschen wirklich selbstbestimmt leben kann. Interview: Anne-Marie Nicole « Selbstbestimmung kann das Leben von Menschen verändern» Herr Bonvin, wie würden Sie den Begriff der Selbstbestimmung definieren? Das ist eine grosse Frage. Ich sehe die Selbstbestimmung als das Zusammenspiel von zwei Elementen: einerseits der Entscheidungsfreiheit, das heisst der Fähigkeit, für sich selbst eigenständig Entscheidungen zu treffen, und andererseits der Handlungsfähigkeit, um das, was man für sich selbst entschieden hat, umzusetzen. Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit sind also nicht nur andere Begriffe für Selbstbestimmung? Nein, es handelt sich nicht um Synonyme. Damit Selbstbestimmung einen Sinn ergibt, muss sie beides vereinen, also die Handlungsfähigkeit und die Entscheidungsfreiheit, denn das eine geht nicht ohne das andere. Handlungsfähigkeit ohne Entscheidungsfreiheit kommt Bevormundung gleich. Entscheidungsfreiheit zu geben ohne Handlungsfähigkeit ist zwar gut gemeint, ändert aber nichts im Leben eines Menschen. Diesen beiden Gefahren ist übrigens die gesamte Sozialarbeit ausgesetzt: Man lässt den Menschen das Recht auf freie Entscheidung, aber gibt ihnen nicht die Mittel, um entsprechend zu handeln, oder aber man gibt ihnen die Mittel, um zu handeln, aber lässt sie nicht selbst entscheiden. Wie lässt sich das vermeiden? Zurzeit dominiert der Diskurs über die Bedeutung der Teilhabe und Selbstbestimmung sogenannter vulnerabler Personen, ganz nach dem Prinzip, «nicht anstelle der Person, sondern mit ihr zu handeln». In der Regel versichern die Heime, das Selbstbestimmungsrecht ihrer Bewohner:innen zu wahren. Das Problem dabei ist, dass vulnerable Personen dennoch vulnerabel bleiben. Werden Sie in ihrer Entscheidungsfreiheit nicht durch ein angemessenes Umfeld unterstützt, das ihre Einschränkungen kompensiert und ihnen die Mittel gibt, ihre Selbstbestimmung auch tatsächlich zu leben, dann ist die Entscheidungsfreiheit lediglich eine Floskel, die das Gewissen beruhigt. Selbstbestimmung kann das Leben von Menschen verändern. Ist Nichtentscheidung auch eine Art der Selbstbestimmung? Absolut. Nichtentscheidung steht nicht zwingend im Widerspruch zur Selbstbestimmung. Für gewisse Menschen ist es schmerzhaft, Entscheidungen treffen zu müssen, und sie lehnen das bewusst ab. Sie ziehen es vor, wenn andere an ihrer Stelle entscheiden, und akzeptieren das, was für sie entschieden wurde. Sobald eine Person jedoch nicht mehr damit einverstanden ist, dass andere für sie entscheiden, wäre jede an ihrer Stelle getroffene Entscheidung erzwungen oder aufgezwungen. Und das hat nichts mehr mit Selbstbestimmung zu tun.

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