ARTISET 06 I 2024 21 Im Fokus Selbstbestimmung setzt die Fähigkeit voraus, Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Das sind komplexe Kompetenzen. Kann dies für das Treffen eigener Entscheidungen und deren Umsetzung ein Hindernis sein? Berücksichtigt man das Umfeld und die Voraussetzungen nicht, damit jeder Mensch die Möglichkeit hat, frei zu entscheiden und dementsprechend zu handeln, dann kann dies tatsächlich ein Hindernis sein oder sogar zu einem gewissen Druck oder einer Überforderung führen. Nehmen wir einmal an, dass alle über Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit verfügen. Aus einer sehr liberalen und individualistischen Sicht wären dann Menschen, die nicht zur Selbstbestimmung in der Lage sind, selbst schuld. Dies nennt man Ableismus, wonach alle fähig und frei sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, und somit auch die Verantwortung dafür tragen. Selbstbestimmung ist aber nicht nur eine Frage der Effizienz oder der persönlichen Verantwortung, sie ist auch eng mit dem sozialen Umfeld verknüpft. Wenn das Umfeld auf vulnerable Situationen abgestimmt ist, kann sich Selbstbestimmung entfalten, entweder gleich wie bei Menschen ohne Einschränkungen oder auf eine andere, aber ebenso erfüllende Weise, die geringere Fähigkeiten berücksichtigt. Sie haben die Überforderung erwähnt. Umgekehrt kann die Selbstbestimmung aber auch als Folge von Bevormundung zu kurz kommen. Es gibt Heime, in denen eine bevormundende Haltung herrscht. Sie möchten ihre Bewohnenden schützen, und dies umso mehr, als das Umfeld ihre Selbstbestimmung nicht ausreichend fördert. Vor diesem Hintergrund neigen Fachkräfte unter Umständen dazu, die Bewohnerinnen und Bewohner zu stark zu behüten, weil sie sie in erster Linie als hilfsbedürftige Menschen und nicht als Akteure des eigenen Lebens betrachten. Diese Haltung kann als respektlos empfunden werden und bei der vulnerablen Person zu Resignation oder sogar Apathie führen. Aber auch das Gegenteil, die Überforderung, ihr also zu viel Verantwortung zu übertragen, zeugt von mangelndem Respekt. Um Klarheit zu verschaffen: Sie bringen die Befähigung zur Selbstbestimmung ins Spiel. Können Sie das bitte genauer erläutern. Der Befähigungsansatz unterstützt die Idee, dass die Menschen die Freiheit haben sollen, ihr Leben so zu führen, wie es ihnen als wertvoll erscheint. Dies setzt voraus, dass sie die Lebensentscheidungen wirklich frei treffen können und sie ihnen nicht von anderen aufgezwungen werden, aber auch, dass sie über die Mittel, Ressourcen und Fähigkeiten verfügen, um ihre Handlungsfähigkeit auszuüben und das Leben so zu führen, wie sie es möchten. Nach diesem Ansatz werden die Heimbewohnenden unterstützt und geschützt, gleichzeitig können sie aber auch aktiv an der Gestaltung ihrer Lebensumgebung teilhaben. Wir verfallen somit weder der Bevormundung noch dem Ableismus. Vielmehr geht es darum, ein Gleichgewicht zwischen beiden zu finden. Dieses Gleichgewicht ist allerdings nicht für alle identisch, sondern wird von den einzelnen Personen, Momenten und Situationen beeinflusst. Zudem müssen der Kontext und das Umfeld stimmen. All dies führt vom schwarz auf weiss geschriebenen Recht der Selbstbestimmung zu einer gelebten Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Sie sagen, dass die Menschen die Freiheit haben sollen, ihr Leben so zu führen, wie es ihnen als wertvoll erscheint. Kennt die Entscheidungsfreiheit denn keine Grenzen? Die Entscheidungsfreiheit ist ein zentrales Element der Selbstbestimmung. Aber das bedeutet nicht, dass jeder Mensch tun und lassen kann, was er will. Denn absolute Freiheit gibt es nicht. In einem gemeinschaftlichen Kontext spricht man eher von vernünftiger Freiheit. Das bedeutet, dass sich die Gemeinschaft darüber einig sein muss, welche vernünftigen Entscheidungen zur Verfügung stehen und wie diese umgesetzt werden können. «Handlungsfähigkeit ohne Entscheidungsfreiheit kommt Bevormundung gleich. Entscheidungsfreiheit zu geben ohne Handlungsfähigkeit ist zwar gut gemeint, ändert aber nichts im Leben eines Menschen.» Jean-Michel Bonvin
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