22 ARTISET 06 I 2024 Diese vernünftige Freiheit muss von der Gemeinschaft getragen werden. Nehmen wir zur Veranschaulichung ein Beispiel aus der Mobilität: Aus Sicht der Gemeinschaft ist der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln – im Gegensatz zu einem Ferrari – eine vernünftige Entscheidung. Und welche Grenzen sind dabei den Institutionen gesetzt? Die Grenzen sind oft struktureller, organisatorischer oder budgetärer Art. Sie können aber auch durch die Berufspraxis, Gewohnheiten oder ein Effizienzdenken bedingt sein, weil es «einfacher und schneller geht, anstelle der Person zu handeln». Auch die psychologischen Hemmschwellen einer vulnerablen Person darf man nicht vergessen. Wenn sie von sich selbst überzeugt ist, dass sie machtlos oder unfähig ist, dann leidet ihre Freiheit darunter. Ein institutioneller Rahmen, der vom Befähigungsansatz ausgeht, könnte Abhilfe schaffen und die Selbstbestimmung für alle sicherstellen. Wie? Indem zum Beispiel Raum für den Dialog geschaffen wird, wo die Heimbewohnerinnen und -bewohner ihre Wünsche äussern können, ohne dass diese gleich vom Tisch gewischt werden. So findet ein Austausch mit den Fachkräften statt. Es wird gemeinsam diskutiert, was vernünftig ist und welche Ressourcen zur Umsetzung bereitgestellt werden können. Nicht alles ist möglich, aber was bisher als unmöglich oder absurd galt, wird vielleicht machbar. Diskussion fördert Respekt, Empathie und Zuhören. Sie nimmt einen wichtigen Platz in der gemeinsamen Gestaltung eines Umfelds ein, in dem Selbstbestimmung begünstigt wird. Sie sehen, wir bewegen uns ständig in dieser Beziehung zwischen Individuum und Umwelt. Und diese Beziehung entwickelt sich weiter, gleichzeitig mit den individuellen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen sowie den Möglichkeiten, die das Umfeld dem Individuum bietet. Jean-Michel Bonvin, Professor für Sozialpolitik und Vulnerabilität an der Uni Genf, engagiert sich dafür, Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Foto: amn
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