Das Leben selbst bestimmen | Magazin ARTISET 6-2024

ARTISET 06 I 2024 27 werden. Leider ähneln die Erfahrungen von Celina und Thalya jenen von vielen anderen Careleaverinnen und Careleavern – jungen Menschen, die einen Teil ihres Lebens in einem Heim oder einer Pflegefamilie verbracht haben und mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Diese jungen Menschen sehen sich in Bezug auf Wohnsituation, Ausbildung und finanzielle Mittel mit grossen Herausforderungen konfrontiert und stossen auf strukturelle und gesetzliche Hürden, manchmal auch auf Lücken im System. Meistens fehlt auch die familiäre Unterstützung. Die nationale Studie «Jugendhilfeverläufe: Aus Erfahrung lernen» (JAEL) hat zum Ziel, die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe von ehemalig ausserfamiliär platzierten Kindern und Jugendlichen zu untersuchen. «Das Schwierigste ist die fehlende familiäre Unterstützung», betont Thalya. «Du kommst nach Hause, und es ist niemand da. Du musst alles allein bewältigen, das Essen, die Wäsche, die Rechnungen. Und wenn es dir nicht gut geht, ist niemand da, der dir zuhört.» Ebenso schwierig sei es, alle Entscheidungen allein zu treffen. Celina stimmt dem zu: «Man erhält Sozialhilfe, ist aber ganz allein. Am Anfang habe ich oft geweint, als ich nach Hause kam, ich hatte keine Lust mehr auf dieses Leben. Was habe ich nur getan, um das zu verdienen? Ich muss viel aushalten.» Zum Glück konnte und kann sie immer auf die Unterstützung und das offene Ohr ihres Partners zählen. Disziplin und harte Arbeit Während Celina heute zwischen dem Zuhause ihres Freundes und der Institution hin- und herpendelt, wohnt Thalya in einem grossen Studio. «Ich bin selbstständig, bezahle meine Rechnungen und kann Musik machen», freut sie sich. Beide erhalten Unterstützungsleistungen für die Bezahlung von Miete, Krankenkasse, Essen, Unterhalt und Körperpflege. «Wir dürfen arbeiten, aber nicht mehr als 300 Franken pro Monat verdienen», erklärt Thalya. «Wie soll man so den Kopf aus der Schlinge ziehen?» Beide jungen Frauen haben wieder angefangen zu studieren: Thalya Musik und Celina Soziale Arbeit. Ihr Ziel ist es, die Maturität zu erlangen und dadurch ihre Ausbildung fortsetzen zu können. Und sie haben Ehrgeiz: Thalya strebt Musiktherapie an, Celina schwankt zwischen Psychologie und Kriminologie, weil ein Medizinstudium nicht möglich ist. «Das ist nicht schlimm, die Hauptsache ist, dass es mir Spass macht und ich glücklich bin.» Mit Tränen in den Augen erklärt sie weiter: «Ich bin so froh, das Umfeld verlassen zu haben, in dem ich mich nicht weiterentwickeln konnte. Seither habe ich einen langen Weg hinter mir. Aber ich muss noch lernen, mit mir selbst zurechtzukommen.» Im Moment stellt sie sich im Alltag kleinen Herausforderungen wie Joggen oder Essen. Um mit ihrem Körper Frieden zu schliessen. Thalya will sich ein gutes Leben erkämpfen, auch wenn sie sich dafür disziplinierter verhalten und hart arbeiten muss. «Mein Leben ist keine Katastrophe, nur weil ich teilweise in einem Heim aufgewachsen bin.» Ihr Ziel ist es, gut zu verdienen, um in einer schönen Wohnung leben und ihre Halbschwestern in die Ferien einladen zu können. «Ich will Ende Monat nicht Pasta essen, sondern Kaviar!», lacht sie. Im Theater sind die Lichter ausgegangen. Die beiden jungen Frauen verlassen den Ort durch den Künstlereingang. Celina steigt auf ihr Motorrad – «ich fahre liebend gern, so fühle ich mich frei!» Und Thalya begibt sich in die Musikschule, um für die kommenden Konzerte zu proben – «kommt doch vorbei!» Alle sind sich einig: Sie hat eine wunderschöne Stimme. Im Fokus HILFE FÜR CARELEAVERINNEN UND CARELEAVER ■ Das Kompetenzzentrum Leaving Care (KLC): Entstanden im Jahr 2019 etablierte sich das KLC als nationale Drehscheibe zum Thema Leaving Care und leistet schweizweit Sensibilisierungsarbeit. Seit 2023 ist es Teil von Youvita, dem Branchenverband der Dienstleister für Kinder und Jugendliche. Der Übergang ins Erwachsenenleben ist für Careleaverinnen strukturell erschwert. So endet die ausserfamiliäre Unterbringung in vielen Kantonen bereits mit der Volljährigkeit oder mit dem Abschluss der Ausbildung. Das KLC fördert über verschiedene Aktivitäten, dass Carelaeverinnen und Careleaver bedarfsorientierte und niederschwellige Unterstützung sowie Chancen- und Rechtsgleichheit im Übergang in die Eigenständigkeit erhalten (siehe leaving-care.ch). ■ Der Verein Careleaver Schweiz: Entstanden im Sommer 2021 ist der Verein eine schweizweite Dachorganisation, mit der Careleaverinnen und Careleaver in der ganzen Schweiz erreicht werden sollen. Die Unterstützung erfolgt etwa durch die Vertretung von Anliegen gegenüber von Behörden und Gremien sowie den einfachen Zugang zu Informationen (careleaver.ch). «Das Schwierigste ist die fehlende familiäre Unterstützung. Du kommst nach Hause und es ist niemand da. Du musst alles allein bewältigen, das Essen, die Wäsche, die Rechnungen.» Thalya

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