Das Leben selbst bestimmen | Magazin ARTISET 6-2024

28 ARTISET 06 I 2024 Rudolf Steiner hielt vor 100 Jahren den «Heilpädagogischen Kurs» mit zwölf Vorträgen – und begründete damit die anthroposophische Heilpädagogik. Einiges davon ist überholt und dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Anderes ist heute noch aktuell und war damals der Zeit voraus. So sprach Steiner etwa dem Leben mit einer Behinderung Sinnhaftigkeit zu und er setzte sich vorbehaltlos für das Lebens- und Bildungsrecht von Menschen mit Unterstützungsbedarf ein. Von Andreas Fischer* Die Achtung der Individualität: Ein Postulat der Anthroposophie 1924 gelang es, den ersten Fax von Europa über den Atlantik zu senden. Im gleichen Jahr ging in den USA die erste Weltumrundung mit dem Flugzeug zu Ende, sie dauerte 175 Tage. Einem deutschen Arzt gelang das erste Elektroenzephalogramm (EEG). Der Blick auf diese Ereignisse macht deutlich, dass sich in den vergangenen hundert Jahren viel verändert und die Technik sich enorm weiterentwickelt hat. Auch im Verständnis der Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihrer Begleitung zeigen sich riesige Entwicklungsschritte. Vor hundert Jahren wurde durch einen Juristen und einen Psychiater die Broschüre «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» herausgegeben, die in Kreisen von Hilfsschulen in Deutschland teilweise positive Aufnahme fand und an einem Kongress von Lehrpersonen diskutiert wurde. Heute arbeiten wir an der Umsetzung der UNBRK mit den Leitmotiven Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion – ein gewaltiger Spannungsbogen. Genau vor hundert Jahren hielt Rudolf Steiner in Dornach zwölf Vorträge, den sogenannten «Heilpädagogischen Kurs», und begründete damit die anthroposophische Heilpädagogik. Im folgenden Beitrag geht es darum, zum 100. Geburtstag der anthroposophischen Heilpädagogik einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen, Leitmotive und Kernthemen darzustellen und aufzuzeigen, wie diese im Umgang mit den Herausforderungen in den Bereichen Selbstbestimmung und Teilhabe hilfreich sein können. Grundlage, Vernetzung und Verbreitung Die vor einem kleinen Kreis von Persönlichkeiten vorgetragenen zwölf Vorträge bildeten die Grundlage der an vielen Orten auf der Welt entstandenen Institutionen, Schulen, Werkstätten und integrativen Wohn- und Arbeitsangebote für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und zunehmend auch für ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf. Zuerst waren es Institutionen für Kinder, in den 50er Jahren rückte die Begleitung von erwachsenen Menschen in den Fokus. In den anthroposophischen Institutionen sprach man in diesem Zusammenhang von Sozialtherapie – da dieser Begriff missverständlich aufgefasst werden kann, wird auch in der Begleitung von Erwachsenen immer mehr von Sozialpädagogik gesprochen. Heute gibt es in 60 Ländern rund 1000 anthroposophisch orientierte Initiativen für Heil- und Sozialpädagogik, weltweit über 50 Ausbildungsstätten und 30 Landesverbände. Der Schweizer Verband «Anthrosocial» wurde 1962 gegründet. Seine Hauptanliegen sind die Förderung der Lebensqualität für Menschen mit Behinderungen und mit einer psychischen Beeinträchtigung, die Vernetzung mit anderen Fachverbänden und die Koordination der Zusammenarbeit der anthroposophisch orientierten Institutionen in der Schweiz. Im Moment sind über 40 Institutionen im Verband Anthrosocial zusammengeschlossen, sie arbeiten in vielen Bereichen,

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