ARTISET 06 I 2024 29 Im Fokus etwa in der Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung, verbindlich zusammen. Seit einigen Jahren gibt es im Rahmen des Verbandes auch einen Beirat von Selbstvertretenden, die ihre Stimme einbringen und die Gremien des Verbandes beraten. In unserer schnelllebigen Zeit stellt sich die Frage, ob Aussagen, die vor hundert Jahren gemacht wurden, noch heute ihre Gültigkeit haben und für die Bewältigung aktueller Fragen und Herausforderung hilfreich sein können. Rudolf Steiner sprach vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeistes, so sind viele von ihm verwendete Begriffe, aber auch der damalige State of the art der Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf nicht mehr zeitgemäss. Auf der anderen Seite sind in den Vorträgen Aussagen formuliert, die zeitlos und heute noch aktuell sind: Steiner sprach dem Leben mit einer Behinderung Sinnhaftigkeit zu und setzte sich vorbehaltlos für das Lebens- und Bildungsrecht von Menschen mit Unterstützungsbedarf ein – er war damit seiner Zeit weit voraus. Kernpunkte anthroposophisch orientierter Begleitung Die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf auf Grundlage des anthroposophischen Menschenverständnisses umfasst zusammengefasst folgende Kerngedanken: die Anerkennung und Achtung der Individualität jedes Menschen, unabhängig von Behinderung, verbunden mit der Überzeugung, dass in jedem Menschen ein gesunder Wesenskern vorhanden ist. Dann das Bestreben, den Menschen mit Unterstützungsbedarf in seiner Einzigartigkeit als gleichwertig anzuerkennen, die Begleitung als dialogischen Prozess zu gestalten, der dem Gegenüber eine gelingende Biografie, gesellschaftliche Teilhabe und möglichst viel Selbstbestimmung ermöglicht. Zentral ist die Bedeutung des Erlebens eines rhythmisierten Tages-, Wochen- und Jahreslaufes und des künstlerischen Tuns und Erlebens. Eine zentrale Forderung Steiners im «Heilpädagogischen Kurs» besteht darin, dass sich die Fachleute führen lassen sollten durch die Individualität der Menschen mit Unterstützungsbedarf. Es geht also nicht darum, eigene Motive und Vorstellungen dem Gegenüber überzustülpen, sondern um die Bemühung, die Motive fürs Tun im Menschen, den sie begleiten, zu finden. Die Begleitung von erwachsenen Personen mit Unterstützungsbedarf hat das Ziel, sie dabei zu unterstützen, ihre biografischen Motive grösstmöglich zu verwirklichen. Dafür braucht es Beratung und Begleitende, die bereit sind, Beziehungen einzugehen und sich in und an der Aufgabe zu entwickeln. Selbstbestimmung bedeutet nicht, dass ich tun und lassen kann, was ich will, sondern dass ich – mit mehr oder weniger Unterstützung – das verwirklichen kann, was als Lebensmotiv in mir veranlagt ist. Dies ist ein beschwerliches Unterfangen, das mit vielen Herausforderungen und Unsicherheiten verbunden ist, aber ganz im Sinne des Wortes von Martin Buber: «Der Mensch wird am Du zum Ich.» Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch Die Umsetzung der UN-BRK steht auch in den anthroposophisch orientierten Institutionen im Vordergrund. Zentral ist die Frage nach dem Umgang mit Spannungsfeldern, unter anderem im Zusammenhang von Individualität und Gemeinschaft, Fürsorge und Selbstbestimmung sowie Autonomie und Bedürftigkeit. Weil es hier kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl- als-auch gibt, ist es von grosser Bedeutung, zusammen mit den Betroffenen ihre individuelle Lebenssituation zu ergründen und Wege zu finden, die ein Optimum an Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen. Dabei geht es auch darum, alte und tradierte Formen zu verwandeln, um die oben aufgeführten Kerngedanken der anthroposophisch orientierten Heil- und Sozialpädagogik so in der Praxis zu realisieren, dass sie eine zeitgemässe Antwort auf die aktuellen Herausforderungen und Bedürfnisse sind. Da gibt es keine Rezepte oder Vorgaben, sondern nur individuelles Suchen, aufbauend auf einer dialogischen Beziehungsgestaltung mit den Menschen mit Unterstützungsbedarf – auf der Basis der Vernetzung mit dem sozialen Umfeld, den Angehörigen, Kolleginnen und Kollegen und Verbänden. * Der promovierte Heilpädagoge Andreas Fischer war als Lehrer, Ausbilder und Supervisor tätig. 20 Jahre lange leitete er eine Internatsschule für Kinder mit Behinderungen und 11 Jahre die Fach- und Koordinationsstelle des Schweizer Verbandes Anthrosocial. Bis 2017 war er als Leiter der Höheren Fachschule für anthroposophische Heilpädagogik (HFHS) in Dornach tätig. Eine zentrale Forderung von Rudolf Steiner im «Heilpädagogischen Kurs» besteht darin, dass sich die Fachleute führen lassen sollten durch die Individualität der Menschen mit Unterstützungsbedarf.
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