Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022
ARTISET 07/08 I 2022 15 Im Fokus Erwerbsarbeit gibt Erwerbstätigen eine Struktur, eine Aufgabe und Identität und führt zu sozialer Anerkennung und Kontakt mit anderen Menschen. Ein zentraler Auslöser für psychische Erkrankungen liegt in arbeitsbedingten Belastungen wie Stress, Zeitdruck, Un- terbrechungen, Konflikten oder fehlen- der Erholung. Rund 15 Prozent der Schweizer Be- völkerung fühlen sich gemäss Obsan-Bericht mittel bis stark psychisch be lastet. In allen Altersgruppen fühlen sich Frauen rund anderthalbmal häu- figer psychisch belastet als Männer. Auch diese Zahlen lassen aufhorchen, arbeiten im Sozial- und Gesundheits- bereich doch deutlich mehr Frauen als Männer. Es gibt Optimierungspotenzial Für die psychische Gesundheit ist das Zusammenspiel von Belastungen und Ressourcen entscheidend. Die Belas- tungen der Erwerbstätigen werden seit über 20 Jahren in diversen Studien un- terschiedlichster Qualität erhoben. Sämtliche Studien zeigen hohe Stress- raten zwischen 20 bis 30 Prozent. Wie bedeutsam die Rolle von Führungs- kräften im Umgang von Belastungen und Ressourcen ist, zeigen einmal mehr die Resultate der Strain-Studie, einer nationalen Interventionsstudie im Schweizer Gesundheitswesen, die 2017 bis 2021 durchgeführt wurde. Will man die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz fördern, gilt es, zent- rale Ressourcen wie den Handlungs- spielraum, die Ganzheitlichkeit der Aufgaben, unterstützendes Vorgesetz- tenverhalten und die Wertschätzung zu stärken. Damit rücken Themen ins Blickfeld, die viel mit der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zu tun haben: Führung, Personalmanagement, Kommunikation, Team- und Organi- sationsentwicklung. Das Potenzial wurde erkannt. Heute setzen rund 75 Prozent der Betriebe in der Schweiz mit 50 oder mehr Mit arbeitenden ein betriebliches Gesund- heitsmanagement um, wie eine Be fragung von Gesundheitsförderung Schweiz (2021) zeigt. In fast der Hälfte der Betriebe ist sich die Geschäftslei- tung der Bedeutung von BGM bewusst und unterstützt das Thema. In ebenso vielen Betrieben besteht die Bereit- schaft, offen über das Thema «Arbeit und Gesundheit» zu sprechen. Opti- mierungspotenzial besteht aber weiter- hin bei Themen wie Stress, psychischer Gesundheit oder dem Einbezug von Mitarbeitenden. Themen, mit denen sich Arbeitgeber auch im Sozial- und Gesundheitsbereich oft schwertun. Achtsamkeit zeigt Wirkung In den letzten Jahren ist das Wissen zur Wirksamkeit und zum Nutzen betrieb- licher Gesundheitsförderung auch beim Thema psychische Gesundheit deutlich gewachsen. Wie eine von der Initiative Gesundheit und Arbeit erar- beitete Zusammenstellung der wissen- schaftlichen Evidenz zeigt (Iga-Report 40, 2019), sind Stress und psychische Störungen heute die am besten unter- suchten Bereiche mit vielen gut erprob- ten Ansätzen. Vorab der wichtigste Punkt: Der Er- folg von Massnahmen steht und fällt mit der Bereitschaft aller Führungsper- sonen. Diese ins Boot zu holen und diesen bewusst zu machen, wie gross ihr Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeitenden ist und worauf sie ach- ten müssen, ist ein zentraler Erfolgsfak- tor. Dies hat bereits die grossangelegte Schweizer Swing-Studie (2008–2011) in acht Betrieben mit über 5000 Mit- arbeitenden gezeigt. Wer mit Kurzinterventionen bei der psychischen Gesundheit punkten will, so eine weitere Erkenntnis des Iga-Reports, hat eher schlechte Karten, da es derzeit keine überzeugenden Belege für derenWirkung gibt. Wer hingegen Interventionen von Angesicht-zu-Angesicht für Führungskräfte und Mit- arbeitende umsetzt, hat mehr Erfolg als mit Online-Schulungen. Für achtsam- keitsbasierte Interventionen zeigen sehr viele Studien vor allem für Berufe im sozialen oder medizinischen Bereich, die als psychisch hoch belastet gelten, positive Ergebnisse hinsichtlich der psychischen Gesundheit. Der For- schungsstand zu achtsamkeitsbasierten Interventionen für Pflegekräfte macht allerdings deutlich, dass die Integration solcher Massnahmen angesichts des hohen Arbeitsaufkommens in den Ge- sundheits- und Sozialberufen die gröss- te Herausforderung darstellt. Diese Frage ist bei Entwicklungs- und Pla- nungsprozessen daher besonders zu berücksichtigen. Auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Massnahmen und Effekten. * Michael Kirschner war bis Ende Juni 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bran- chenverband Curaviva. Die Integration von Massnahmen, welche die Achtsamkeit fördern, bedeutet für die Betriebe eine grosse Herausforderung.
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