Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022

ARTISET 07/08 I 2022  17 Das Fenster steht weit offen. Fröhliches Stimmengewirr dringt herein vom Platz in der Winterthurer Altstadt, wo an diesem Morgen gerade Markt ist. Ein leichtes Lüftchen sorgt für eine angenehme Atmosphäre in der Wohnung im zweiten Stock. Ruhig, konzentriert erzählt Daniel Janisch, 32, seine Geschichte, seine Krankheitsgeschichte, vor allem aber, wie er mit seiner psychischen Erkrankung gelernt hat zu leben. Er formuliert seine Gedanken präzise, differenziert. Hier spricht jemand, der über sein Leben respektive über das Leben reflektiert. «Die Krankheit ist sehr spannend, weil der Umgang damit viel mit dem normalen Leben zu tun hat», sagt Daniel Janisch, der ein Psychologiestudium abgeschlossen hat. Er vergleicht das Leben mit einem ständigen Surfen und meint damit, dass es ja immer darum geht, die eigene Psyche in der Balance zu halten. Seine Bipolare Störung, die erstmals aufgetreten ist, als er 20 Jahre alt war, fordert ihn diesbe­ züglich ganz besonders. Schnell schlagen seine Emotionen in eine ungesunde Richtung aus, zu weit nach oben oder zu weit nach unten. «Ich muss beides kontrollieren, sodass ich nicht in eine Manie hineinkomme oder in eine Depression abgleite.» Verantwortung übernehmen Dieses Surfen auf den Gefühlswellen hat er in den letzten Jahren immer besser gelernt. Seit vier Jahren hat er keine Rückfälle mehr. «Ich kann nicht sagen, dass ich die Krank­ heit besiegt habe, aber ich glaube sie verstanden zu haben», sagt er, dazu entschlossen, mit der Krankheit seinenWeg zu finden. Daniel Janisch lebt die Idee der Recovery-Bewegung. «Recovery» bedeutet «Gesundung» oder «Genesung». Im Kern geht es dabei darum, wie man mit den Belastungen des Lebens, die zum Teil sehr schwierig sein können, umge­ hen und sie bewältigen kann. Das Recovery-Konzept ist in den 90er-Jahren in den ang­ loamerikanischen Ländern entstanden und mittlerweile in etlichen Ländern zu einer Leitlinie in der psychiatrischen Versorgung geworden. In der Schweiz setzt sich die Stiftung Pro Mente Sana für eine bessere Verankerung in der öffent­ lichen Gesundheitsversorgung ein. Bei Recovery stehen die Faktoren im Zentrum, die je­ manden gesund oder gesünder und zufriedener durchs Le­ ben gehen lassen. Das Modell nimmt dadurch die Betroffe­ nen selbst in die Pflicht und eröffnet ihnen Perspektiven, selbst dann, wenn jemand aus Sicht der Medizin austhera­ piert zu sein scheint. «Die Eigenverantwortung ist von zentraler Bedeutung», weiss Daniel Janisch, der in einem Teilzeitpensum als Be­ troffenenvertreter bei Pro Mente Sana tätig ist. Verantwor­ tung für sich selbst zu übernehmen, bedeutet etwa, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. «Als ich mit Anfang 20 ein erstes Mal in die Klinik kam, war ich entschlossen, alles über die Krankheit zu lernen, um wieder in den regulären Alltag zurückzufinden.» Als Psychologe wurde er in den fol­ genden Jahren gleichsam zu seinem eigenen Versuchskanin­ chen. Wichtig sei, ein feines Sensorium für die Frühwarn­ symptome der Krankheit zu entwickeln, um dann mit bestimmten Bewältigungsstrategien darauf zu reagieren. «Wenn ich zum Beispiel schlecht schlafe, mich wacher fühle als sonst und vielleicht auch mehr rede, dann schotte ich mich sofort von zusätzlichen Reizen ab.» Er muss auch darauf achten, dass in seinem Leben nicht zu viele Veränderungen auf einmal stattfinden. Neben dem selbstverantwortlichen Umgang mit den eigenen Schwächen gehöre zu Recovery auch, die eigenen Stärken und Poten­ ziale zu sehen. «Als introvertierter Mensch bin ich sehr gut darin, im Zweiersetting mit Menschen zu reden.» Schritt für Schritt geht Daniel Janisch vorwärts, auch beim Aufbau einer beruflichen Existenz, die seinen Stärken entspricht und ihn nicht überfordert. «Ich spüre in diesem Prozess die Kraft, meinen eigenen Weg zu gehen.» Die Menschen an seiner Seite Auf dem anspruchsvollenWeg, die Psyche in der Balance zu halten, hilft ihm die Verbundenheit mit seinen Eltern und engen Freunden. «Man muss sich öffnen und andere Men­ schen an seinem Leben teilhaben lassen», sagt er. «Meine Familie und meine Freunde wissen, wie es mir geht und welche Anzeichen es dafür gibt, dass es bei mir in Richtung Manie geht.» Tiefgründige, über sich selbst und die Welt reflektierende Gespräche, wozu manchmal auch das Rau­ chen einer Zigarre gehört, sind seine grosse Leidenschaft. Eine besondere Verbundenheit fühlt Daniel Janisch mit denTeilnehmenden einer Selbsthilfegruppe. «Wir teilen die gleichen Erfahrungen und fühlen uns dadurch verstanden.» Er wird hier daran erinnert, dass er aufpassen muss, und erhält Tipps von Menschen, die es wissen müssen. Und wie schaut es mit Medikamenten aus? Diese gehö­ ren – noch – gleichsam ergänzend dazu. Das Geheimnis sei die richtige Dosierung. «Die Medikamente sollen eine ge­ wisse grundlegende Stabilisierung ermöglichen, ohne sämt­ liche Emotionen zu unterdrücken.» Daniel Janisch aus Winterthur lebt seit 12 Jahren mit einer Bipolaren Störung. Seit vier Jahren hat er keine Rückfälle mehr. Vor allem deshalb, weil er weiss, wie er mit seiner Krankheit umgehen muss und dass er dennoch ein gutes Leben führen kann. Er verwirklicht damit die Idee der Recovery-Bewegung. Von Elisabeth Seifert

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQzMjY=