Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022

ARTISET 07/08 I 2022  19 Die Jugendpsychiatrien sind am Anschlag. Bereits Anfang 2021 berichtete die «Berner Zeitung» von einem Andrang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der UPD Bern, «wie wir ihn noch nie erlebt haben». Auch eine Studie des Kin- derhilfswerks Unicef im Sommer 2021 zeigt besorgniserre- gende Resultate: Von den befragten 1097 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren bezeichnet fast jede und jeder Zweite die psychische Gesundheit als «schlechter als vor der Pandemie». Dementsprechend verzeichnete Pro Juventute im Corona-Jahr 2021 fast doppelt so viele Suizid-Beratun- gen unter der Beratungsnummer 147 wie vor der Pandemie – täglich dachten sieben junge Menschen an Suizid. Besorg- niserregende Ergebnisse aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe zeigte auch die Equals-Studie von September 2021 (siehe Link). Und Anfang 2022 berichtete die «Sonn- tagszeitung», in den beiden Pandemiejahren hätten ambu- lante Notfalluntersuchungen in der Kinder- und Jugend­ psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich um 40 Prozent zugenommen, stationäre Notfalleinweisungen gar um 70 Prozent. Deutliche Zahlen. Waren Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg zu viel für die Psyche unserer Jungen? Alain Di Gallo, Klinikdirektor der Klinik für Kinder- und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, sagt: «Ja. Aber nicht nur.» Verpasst oder zweidimensional erlebt Tatsächlich sei in der Pandemie viel gelaufen, soziale Aus- grenzung, Einsamkeit, Verlust von Freundschaften hätten eine grosse Auswirkung gehabt, der Leidensdruck sei gross: «Das müssen wir Erwachsenen bedenken, für ein sieben­ jähriges Kind sind zwei Jahre gefühlt ein ganzes Leben.» In dieser Zeit würden wichtige Entwicklungsschritte tangiert. «Auch Jugendliche können zwei Jahre verpasstes Leben nicht einfach nachholen.» Abschlussfeiern, Maturprüfungen, Schnupperlehren: alles gestrichen. Von Lehrbeginn bis Sportstudium: alles online, zweidimensional. Das habe Spuren hinterlassen. Hinzu komme, sagt Di Gallo, dass Kin- der oft die Symptomträger seien: «Sie reagieren stark auf Unsicherheit und spüren sofort, wenn Eltern gestresst sind.» Deshalb müsse man in der Kinderpsychiatrie ohnehin stark systemorientiert arbeiten, seit der Pandemie erst recht: Auch die Eltern seien in dieser Zeit oft von Haltgebenden zu Halt- suchenden geworden, in dieser Doppelrolle überfordert und unterstützungsbedürftig. Allerdings ist der Basler Professor mit Fachleuten aus den Kinderpsychiatrien von Genf bis Zürich einig: Der schlech- tere psychische Zustand der Jugend zeichnet sich bereits seit zehn Jahren ab. «Corona macht nur diesen Trend noch deutlicher.» Das Bulletin 2022 des Schweizerischen Gesund- heitsobservatoriums Obsan bestätigt das: Im ersten Pande- miejahr 2020 habe sich vor allem ab September eine Zu- nahme an psychiatrischen Hospitalisierungen gezeigt, heisst es. Aber auch: «Seit 2012 nehmen die psychiatrischen Hos- pitalisierungen von Kindern und Jugendlichen kontinuier- lich zu.» Woran liegt das? Alain Di Gallo vermutet, dass einerseits psychische Krankheiten in dieser Zeit entstigma- tisiert worden seien und zugleich das Bewusstsein dafür gestiegen sei. Und: Psychische Erkrankungen seien nicht kategorial wie eine Schwangerschaft – man ist schwanger oder nicht –, sondern der Übergang sei oft fliessend, die Inter­ pretation veränderbar. Als er noch studiert habe, sei man bei Autismus von einer betroffenen Person auf 1000 ausgegan- gen. «Heute, mit der Definition Autismus-Spektrum-Störung in allen Ausprägungsformen, gehen wir von einer betroffenen Person auf 80 aus.» Medien: Dringend Grenzen setzen Ausserdem ist Di Gallo überzeugt, dass schon vor Pandemie und Ukrainekrieg andere Herausforderungen den Kindern und Jugendlichen zugesetzt haben: Ein «unglaublich hoher Takt mit laufend neuen Anforderungen und hohemDruck», nicht zuletzt aufgrund extensiver Mediennutzung, sei der psychischen Gesundheit abträglich. «Ich erschrecke, wenn ich sehe, dass die Hälfte der Zweijährigen bereits regelmäs- sig vor einem Tablet sitzt.» Er wolle die Medien nicht ver- teufeln, aber Kinder müssten dringend Resilienz und einen sinnvollen Umgang mit Medien erlernen. Eltern ruft er daher dringend dazu auf, sich Zeit zu nehmen für ihre Kin- der. «Kleine Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Anregung und Blickkontakt», betont er. «Und ältere Kinder brauchen viel Förderung, aber ohne Überforderung, und klare Grenzen.» Fakt ist: Rechneten Fachleute 2017 noch mit 15 bis 20 Prozent Kindern und Jugendlichen, die jährlich psychisch erkrankten, sind es heute, nur fünf Jahre später, 20 bis 25 Prozent. Eine massive Zunahme für einen Bereich, der ohne­ hin personalmässig ebenso unterdotiert ist wie finanziell. «Klar, dass da unser Jugendpsychiatriesystem dekompen- siert», findet Alain Di Gallo: «Ein Bett» sei auch in der sta- tionären Jugendpsychiatrie «nicht einfach ein Bett», sondern benötige vor allem genug gut ausgebildetes Personal, viel Beziehungsarbeit, Zeit und Geld. Dort hapere es. Jugend im Stress: Corona belastet Kinder und Jugendliche. Einige gingen im Lockdown quasi still unter, andere verspürten danach erst recht Druck. Foto: Adobe Stock

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