Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022

20  ARTISET 07/08 I 2022 EQUALS-STUDIE: Welche pandemiebeding- ten Veränderungen kom- men auf die stationäre Kinder- und Jugendhilfe zu? Besonders stark gelitten haben – wie in anderen Zeiten auch – Kinder und Jugendliche mit psychisch und sozial belasteten Eltern oder solche, die in engen Platzverhältnissen von sozialen Kontakten abgeschnitten waren und still ver- gessen gingen. Paradoxerweise sei es einigen nach der Lo- ckerung noch beinahe schlechter gegangen, sagt Di Gallo, weil es ihnen enormen Druck bereitete, als alles wieder scheinbar normal lief: «Jetzt hatten sie das Gefühl, auch wieder funktionieren zu müssen.» Zwar seien sehr viel mehr vorbelastete Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie vor- stellig geworden, «aber nicht nur». In den Institutionen, in denen ohnehin stark vorbelastete Kinder und Jugendliche leben, hätten die Liaisondienste, die in enger Zusammen­ arbeit die Kinder- und Jugendinstitutionen psychiatrisch begleiten, vieles auffangen können. Rappelvoll wegen zu viel Druck Matthias Luther, Leitender Arzt des Zentrums für Liaison und aufsuchende Hilfen der Klinik für Kinder und Jugend- liche der UPK in Basel, sagt allerdings: «Die Anzahl der Platzierungen ist seit dem ersten Lockdown merklich in die Höhe geschnellt, weil die Systeme Familie und Schule über- fordert sind, sodass inzwischen die meisten Schulheime und Wohngruppen rappelvoll sind.» Dies bedeute mehr proble- matische Interaktionen zwischen den platzierten jungen Menschen und daher auch mehr emotionale Krisen. Die Themen «Klimakrise und Ukraine-Krieg» hingegen erlebt Luther nicht als präsent bei platzierten Jugendlichen: «Für sie sind ihre eigenen Belastungen rund um Familie, Schul- druck und Freundeskreis entscheidend, die merklich zuge- nommen haben: Offensichtlich erfahren sie von den Er- wachsenen innerhalb ihrer eigenen Systeme nicht mehr ausreichend Stabilität.» Gemäss Studien – die allerdings oft nicht untereinander vergleichbar sind, weil sie nicht die gleichen Alterssegmente erforschen – geht es zwar knapp vier von fünf Kindern und Jugendlichen psychisch gut. Das heisst aber: Die anderen benötigen Hilfe, und manche von ihnen nicht in sechs oder zehn Monaten, sondern rasch. «Die Hälfte der psychischen Erkrankungen tritt vor dem 16. Lebensjahr auf, und oft helfen schon wenige Interventionen viel Leid vermeiden», sagt Alain Di Gallo. «Geht es um Kinder und Jugendliche, ist jeder Franken gut investiert.» Handeln ist also dringend angesagt, darin sind sich Fach- leute und Politikerinnen einig. An der Nationalen Fachta- gung «Jugend im Stresstest» des Schweizerischen Roten Kreuzes vom letzten November forderte Kinderarzt Daniel Frei, Vorstandsmitglied Public Health Schweiz: «Psychisch gefahrdete junge Menschen durfen von Politik und Gesell- schaft nicht ihrem Schicksal uberlassen werden. Der Mangel an geeigneten Therapieangeboten muss durch zusatzliche Finanzierung behoben werden.» Sofortmassnahme: Ausbau der Anlaufstellen Unterstützt wird er von SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel, die sich seit Jahren für dieses Thema einsetzt und unlängst eine von 18 Parlamentarierinnen und Parlamenta- riern mitunterzeichnete Interpellation eingereicht hat: Sie spricht von einer «Notsituation», und es dauere Jahre, bis die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung verbes- sert sei. Als dringende Sofortmassnahme verlangt sie deshalb einen Ausbau der niederschwelligen psychosozialen Anlauf- und Beratungsstellen und die dafür nötigen finanziellen Mittel. Trotz allen besorgniserregenden Meldungen sieht Jugend- psychiater Alain Di Gallo einen Silberstreifen. Noch nie habe man öffentlich so viel über die Situation in der Kin- derpsychiatrie geredet, sagt er. Das lasse hoffen. Und: «Kin- der haben ein unglaubliches Potenzial und können viel aushalten, wir können in ihre Entwicklung vertrauen.» Sie hätten es aber verdient, dass wir uns in ihre Situation hin- einversetzen und uns daran erinnern, wie wir unsere Jugend erlebt haben. «Die zwei Jahre können wir ihnen nicht zu- rückgeben. Aber wir können sie jetzt unterstützen.» Im Fokus

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