Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022
ARTISET 07/08 I 2022 21 Frau Sehn, wie wirkt sich eine Flucht auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus? Das lässt sich nicht so einfach verallgemei nern: Zum einen hängt es davon ab, wie ihre Flucht abläuft, ob sie von Eltern oder Verwandten begleitet wurden oder ob sie auf sich allein gestellt sind. Zum anderen ist es ein Unterschied, ob sie im Flugzeug oder im eigenen Auto geflüchtet sind, wie das etliche Menschen aus der Ukraine jetzt gerade durchgemacht haben, oder ob sie im überfüllten Gummiboot über das Meer flüchten und fürchten mussten, zu ertrinken. Oder ob sie mit Schleppern durch denWald geführt wurden und sich unterwegs in Flüchtlingslagern aufhalten mussten. Und dann kommt es sehr darauf an, wie viel Schrecken und Gewalt sie im Herkunftsland schon mit ansehen oder selber erleben mussten. Spielt es auch eine Rolle, wie alt die Kinder und Jugendlichen dabei sind, können es die einen besser verarbeiten als die anderen? Kinder und Jugendliche sind generell be sonders vulnerabel, weil sie sich noch in Entwicklung befinden und von Erwach senen abhängig sind. Sie verstehen vieles noch nicht und verfügen über weniger Ressourcen. Tatsächlich ist es für ein Baby ein schützender Faktor, wenn die Mutter verlässlich da ist. Zugleich sind besonders kleine Kinder voll abhängig von den El tern, sie verstehen kognitiv nicht, was abläuft, reagieren aber sehr körperlich auf die Ängste der Eltern und überneh men sie. Später können sie das Erlebte aber nicht bewusst verarbeiten, sondern leiden unter diffusen Beschwerden. Ältere Kinder und Jugendliche hingegen erleben alles schon sehr bewusst, was einerseits sehr belastend ist, aber später beim Ver arbeiten hilfreich sein kann, weil man vieles erklären und einordnen kann. Welche Traumata wiegen Ihrer Er- fahrung nach am schwersten bei Kindern und Jugendlichen? Am schwersten traumatisierend wirkt in terpersonelle Gewalt, also wenn Men schen anderen Menschen Gewalt antun. Besonders wenn diese Gewalt wiederholt stattfindet, steigt das Risiko für eine post traumatische Belastungsstörung stark an. Auf der Flucht sind Mädchen und junge Frauen besonders gefährdet: Sie laufen Gefahr, Opfer von sexualisierter Gewalt oder Ausbeutung zu werden. Teils haben sie diese sogar bereits in ihrer Heimat erlebt, aber auch auf der Flucht oder im Gastland wird die Notsituation von Frauen oft ausgenutzt, vor allem Kinder und Jugendliche, die nach einer Flucht bei uns ge- landet sind, müssen oft mit enormen psychischen Belas- tungen umgehen. Sie brauchen Sicherheit und Stabilität, wie Traumatherapeutin Andrea Sehn* aus ihrer Arbeit mit sehr traumatisierten jungen Menschen weiss. Von Claudia Weiss «Alles Vertraute ist auf einen Schlag weg» Im Fokus
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