Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022

22  ARTISET 07/08 I 2022 wenn sie allein unterwegs sind. Bei den Ukrainerinnen haben zum Glück die Medien darauf aufmerksam gemacht. Männer versuchten, ankommende Ukrainerinnen mit dubiosen Ver- sprechungen anzulocken. Sind Kol- lektivunterkünfte besser geeignet? Nein, die Wohnsituation in Kollektivun­ terkünften ist für Frauen und Mädchen herausfordernd: Diese sind sehr männ­ lich dominiert. Besonders für Mädchen und junge Frauen aus traditionelleren Gesellschaften ist es schwierig, sich darin zu bewegen. Insbesondere wenn sie sexu­ alisierte oder andere Gewalt erlebt haben, wirkt eine solche Unterkunft auf sie sehr beängstigend, ja, oft sogar retraumatisie­ rend. In der Ambulanz erlebe ich auch junge Frauen, die ohnehin schon schwer­ wiegende psychische Belastungen aus ihrer Heimat mit sich tragen: Manche haben keine Ausbildung, wurden zwangsverheiratet oder haben eine Geni­ talverstümmelung erlitten. Für uns unvorstellbare Erlebnisse… Tatsächlich. Und ein ganz besonders ein­ schneidendes Trauma für Kinder und Jugendliche ist der Verlust von Eltern oder anderen Angehörigen während der Flucht. Machen sich Jugendliche sowieso schon Sorgen um ihre Familienangehörigen, die im Heimatland zurückgeblieben sind, werden die Sorgen und Ängste noch viel grösser, wenn es zu Trennungen auf der Flucht kommt. Stellen Sie sich eine Ju­ gendliche vor, die mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder auf der Flucht war. Unterwegs wurde die Familie getrennt, die Eltern wurden von der Polizei auf­ gegriffen und in das Herkunftsland zu­ rückgeschafft. Die Jugendliche flüchtete allein weiter, und ihr jüngerer, zwölfjäh­ riger Bruder ist seither verschollen. Daneben wirken Geschichten wie die der beiden Jugendlichen aus der Ukraine, die wir in unserem Online-Beitrag vorstellen, fast harmlos. Und doch bedeutet Flucht per se eine schwere Erschütterung? Ja, allein die Tatsache, dass sie Verwand­ te, Freunde, Haustiere, Hobbys, ihr Zu­ hause, ja, ihr ganzes bisheriges Leben abrupt hinter sich lassen mussten, ist sehr belastend. In vielen Kulturen spielt die weitere Verwandtschaft mit Grosseltern, Tanten und Onkeln eine sehr wichtige Rolle. Fällt die Sicherheit dieser Gross­ familie weg, stellt das oft alles in Frage: Alle bisherigen Sicherheiten und alles Vertraute sind auf einen Schlag weg, das Leben ist komplett anders geworden. Die Jugendlichen finden sich plötz- lich in einem fremden Land wieder… Und damit haben sie ihren Halt verloren, ihren Alltag, ihre kulturelle Einbettung und ihre Heimat hinter sich gelassen. Und mit der fremden Sprache verlieren sie auch vorübergehend die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Solch einschneidende Ereignisse können massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit darstellen. Und dann sind sie in diesem Gast- land manchmal nicht willkommen. Genau, das stellt dann gleich eine weitere Belastung dar. Die Kinder und Jugend­ lichen müssen oft mit enttäuschten Er­ wartungen umgehen und mit mangeln­ den Perspektiven was die Ausbildung anbelangt. Ausserdem belasten Scham- und Schuldgefühle viele Geflüchtete. Scham- und Schuldgefühle? Scham empfinden viele, nachdem sie bei­ spielsweise sexualisierte Gewalt erlebt haben. Oder weil sie zu Handlungen gezwungen wurden, für die sie sich schämen und wegen denen sie sich zu­ gleich schuldig fühlen. Schuldgefühle entstehen auch manchmal allein daraus, dass sie überlebt haben. Und Scham emp­ finden manche darüber, dass sie es hier Im Fokus Traumatherapeutin Andrea Sehn in ihrem Büro: «Mit Hilfe von Figuren finden Kinder und Jugendliche oft einen einfacheren Zugang.»  Foto: cw

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