Die psychische Gesundheit pflegen | Magazin ARTISET | 7-8 2022

ARTISET 07/08 I 2022  23 UNTERSTÜTZUNG RUND UM TRAUMATA Das Schweizerische Rote Kreuz SRK unterstützt Fach- personen und Gastfamilien: Die Kantonalverbände bieten Kurse zu Trauma und Flucht und Traumapäda­ gogik an. Ausserdem entwickelt das SRK gegenwärtig zusammen mit Geflüchteten aus dem arabischspra- chigen Raum ein E-Mental-Health-Programm. Wenn es sich bewährt, soll es künftig in mehreren «Flücht- lingssprachen» zugänglich sein. Informationsbroschüre zur Posttraumatischen Belastungsstörung: ➞ www.migesplus.ch/publikationen/wenn-das-ver- gessen-nicht-gelingt Kurse und Ausbildungen des Schweizerischen Roten Kreuz: ➞ www.redcross-edu.ch besser haben als andere Landsleute, die in der Heimat zurückgeblieben sind. Wie äussern sich die daraus entste- henden psychischen Probleme? Typisch sind sogenannte Flashbacks, Er­ innerungen, die durch ein Geräusch oder eine Situation ausgelöst werden können und die traumatische Situation wieder­ erleben lassen. Probleme zeigen sich auch in einer hohen Anspannung, mit Selbst­ regulationsproblemen und Reizbarkeit oder Launenhaftigkeit. Auch Vermei­ dung von allem, was an das Erlebte erin­ nern könnte, ist ein typisches Symptom. Das kann dahin führen, dass jemand unversehens in Ohnmacht fällt, sobald irgendein Trigger, ein Auslöser, sie in die traumatisierende Situation zurückver­ setzt, wie ich das auch schon erlebt habe. Was benötigen traumatisierte Kin- der und Jugendliche für ihre psychi- sche Gesundheit? Ein stabiles Umfeld und Bezugspersonen, die ihnen Halt vermitteln. Längst nicht alle, die Schlimmes erlebt haben, entwi­ ckeln eine Posttraumatische Belastungs­ störung: Viele erholen sich in einer ge­ schützten Umgebung. Sie können das Erlebte nicht vergessen, aber lernen, da­ mit zu leben, den Alltag zu bewältigen, die Erinnerungen zu kontrollieren. Jene, die ins Ambulatorium kommen, haben aber oft sehr viele wiederholte Gewalter­ lebnisse hinter sich, die kumuliert haben. Sie haben extrem Schweres durchgemacht. Wir sehen hier die Spitze des Eisbergs. Und wie gehen Sie in solchen Fällen an eine Therapiesitzung heran? Das hängt vom Alter der Kinder und Ju­ gendlichen ab. Häufig steige ich über Hilfsmittel ein: farbige Styroporklötze, mit denen wir zusammen eine schützen­ de Burg bauen. Handpuppen, mit deren Hilfe ich ein Kind ansprechen kann, das vielleicht zu verschüchtert ist, wenn ich es direkt anspreche. Oder Figuren, mit denen ein Jugendlicher eine Szene auf­ stellen und etwas erzählen kann, ohne von sich zu sprechen. Im Gespräch kön­ nen wir diese Situation gemeinsam ver­ ändern und der Figur des oder der Ju­ gendlichen eine andere Rolle geben oder ein Krafttier zur Seite stellen. Das hängt sehr von der Person und Situation ab. Bis dahin müssen Kinder und Ju- gendliche oft wochenlang auf einen Therapieplatz warten. Deshalb versuchen wir, vermehrt Grup­ penangebote aufzubauen: Es kann ein gutes Erlebnis sein zu merken, dass sie nicht allein sind. Und in der Gruppe können sie voneinander lernen. Oft ist es schon wichtig zu merken, dass ihre Ge­ fühle normal sind, dass sie nicht krank sind, sondern traumatisiert. Auch ein sicherer Alltag mit Struktur und Kontrol­ le kann abfedernd wirken, sodass das Warten auf einen Therapieplatz weniger tragisch ist. Allerdings wirkt sich ein un­ sicherer Aufenthaltsstatus sehr kontrapro­ duktiv auf die psychische Gesundheit geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus. Was entscheidet darüber, ob sie ihre Traumata verarbeiten können? Sicherheit, Geborgenheit und Akzeptanz. Ausserdem hängt die Fähigkeit zum Ver­ arbeiten von individuellen Merkmalen wie Alter und Persönlichkeit ab und da­ von, ob Kinder oder Jugendliche erschwe­ rende Faktoren mitbringen: eine Behin­ derung, eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS oder eine depressive Veranla­ gung. Auch die Intelligenz spielt eine Rolle: Je nachdem kommt jemand besser zurecht, kann sich rascher anpassen und lernt die Sprache einfacher. Nicht zuletzt spielt die Schule eine zentrale Rolle: Sie vermittelt Normalität und Struktur. Das sind schützende Faktoren, damit sich Kinder und Jugendliche ungehindert ent­ wickeln und ihre Erlebnisse in den Le­ benslauf einbetten können. * Andrea Sehn, 58, ist Fachpsychologin für Kin- der- und Jugendpsychotherapie am Ambula- torium für Folter- und Kriegsopfer des SRK in Bern. Sie therapiert regelmässig schwer trau- matisierte geflüchtete Kinder und Jugendliche. Wie die Geschwister Anna und Bogdan Motruk ihre Flucht aus der Ukraine und die Ankunft in der Schweiz erlebten, wie es ihnen hier geht und was sie beschäf- tigt, erfahren Sie on- line auf diesem Link.

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