ARTISET 07/08 I 2024 23 Herr Brignoli, während andere im Sommer Ferien machen, engagieren Sie sich in den Ferienlagern für Kinder mit und ohne Behinderung des Tessiner Vereins Atgabbes. Wie kam es dazu? Entscheidend war ein Erlebnis an einem lauen Sommerabend vor 15 Jahren auf dem Dorfplatz jener Alpengemeinde in Graubünden, in der ich von Kindheit an viele Sommer verbracht habe. Gitarrenklänge mischten sich mit Gesang und setzten eine für mich ungewohnte Energie frei. Junge Leute, die ich mehr oder weniger gut kannte, schenkten ihre Aufmerksamkeit Menschen, die damals in meinen Augen völlig anders waren, erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen. Meine Schwester und ich waren fasziniert von der Atmosphäre und wurden an diesem Abend ganz selbstverständlich ein Teil dieser Gemeinschaft, die viel Spass miteinander hatte. Das war ein wichtiger Moment in meinem Leben, der mir den Weg in die Zukunft wies, sowohl privat als auch beruflich. Inwiefern prägte diese Erfahrung Ihr weiteres Leben? Dieses Erlebnis war einer von mehreren Gründen, weshalb ich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit studiert Rocco Brignoli* begleitet als Freiwilliger seit vielen Jahren inklusive Sommerlager für Kinder im Tessin. Er erläutert die Bedeutung dieser Erfahrung für sein eigenes Leben – und zeigt auf, wie über gemeinsame, spannend und phantasievoll gestaltete Aktivitäten Inklusion entstehen kann. Interview: Elisabeth Seifert und die Uni Fribourg gewählt habe. Viele der Freiwilligen, die sich innerhalb des Vereins Atgabbes engagieren, haben nämlich in Fribourg studiert. Durch diese Kontakte stiess ich auf das Tutti-Frutti-Camp, das Sommerlager des gleichen Vereins für Kinder mit Beeinträchtigung. Viele der Freiwilligen, wenn auch längst nicht alle, haben einen sozialen Beruf. Durch ihr Engagement als Freiwillige gelangen sie zur Überzeugung, dass Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung nicht zwingend in einem institutionellen Kontext stattfinden muss. In einer inklusiven Gesellschaft darf die Begleitung nicht einzig durch Fachpersonen erfolgen. Geprägt hat die Tätigkeit für den Verein auch mein privates Leben. Ich habe über den Verein viele Freundschaften geknüpft. Was ist das Besondere an diesen Sommerlagern für Kinder? Obwohl Teil des Vereins Atgabbes, ist jedes dieser Sommerlager unabhängig, was die Organisation der Aktivitäten betrifft. Eine weitere Besonderheit dieser Ferienlager ist, dass keine Fachpersonen anwesend sind. Es handelt sich ausschliesslich um Freiwillige, auch wenn viele von ihnen eine Ausbildung im Bereich der Sozial- und Gesundheitsbereich machen oder abgeschlossen haben. Zudem nehmen einige auch an Weiterbildungsmassnahmen teil. Diese Sommerlager sind sowohl für die Kinder mit und ohne Beeinträchtigung als auch für die Freiwilligen Ferien. Natürlich haben wir als Freiwillige viele «Pflichten». Neben der Betreuung investieren wir viel Zeit in die Entwicklung spannender Aktivitäten, die den ethischen Richtlinien entsprechen. Wir betten die Aktivitäten in Geschichten ein und konzipieren ganze Theaterprojekte über die Dauer des Camps. Der Aufwand, den wir haben, wird mehr als wettgemacht durch die magische und engagierte Atmosphäre, die sich jedes Mal einstellt, wenn wir uns treffen. «Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung muss nicht zwingend in einem institutionellen Kontext stattfinden. In einer inklusiven Gesellschaft darf die Begleitung nicht einzig durch Fachpersonen erfolgen.» Rocco Brignoli
RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2MjQyMg==