36 ARTISET 07/08 I 2024 erleben auf diese Weise einen Knowhow-Gewinn. Sehen Sie Beispiele, wo die Annäherung der beiden Systeme, der Sonder- und der Regelschulen, klappt? Es gibt viele Einzelbeispiele: zum Beispiel in Martigny im Kanton Wallis: Dort musste man in den 90er-Jahren zwei neue Schulen bauen, eine Regel- und eine Sonderschule. Man hat dann beide Schultypen in einem einzigen Haus integriert. Und das funktioniert auch heute noch: Viele Kinder und Jugendliche sind in die Regelklasse integriert, zum Teil werden sie über eine gewisse Zeit hinweg in separierten Gruppen oder auch in einer Sonderklasse gefördert. Auch diese Sonderklassen gehören aber zum Schulalltag, die Kinder verbringen die Pausen zusammen, wodurch die soziale Integration gelingt. Auffallend ist, dass bei solch guten Beispielen vor allem die Schulen die Treiber sind, nicht die Kantone oder die Politik. Die Schulleitungen haben also eine Vorreiterrolle? Ja, und zwar die Schulleitungen der Regel- und der Sonderschulen. Wichtig ist, dass auch die Sonderschulen die Zusammenarbeit mit der Regelschule wollen. Und wie gerade auch das Beispiel Martigny zeigt, macht die Not erfinderisch: Wenn man eine Sonderschule erweitern muss, könnte man ja stattdessen eine Sonderklasse in einer Regelschule einrichten oder man könnte eine Regelklasse in der Sonderschule integrieren. Es geht darum, Möglichkeiten zu suchen, um aufeinander zuzugehen. Der Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft stellt hohe Anforderungen an die Lehrerschaft: Werden die Regelschullehrpersonen dafür genügend gut ausgebildet? Reformen müssen bei der Aus- und Weiterbildung anfangen. Junge Lehrpersonen werden heute befähigt, ihren Unterricht zu differenzieren und auf unterschiedliche Bedürfnisse auszurichten. Wichtig sind auch Weiterbildungsangebote und Unterstützung der Lehrpersonen. Sehr gut ist zudem, dass etwa an der PH Bern und der PH FHNW neben der regulären Lehrerausbildung auch die Sonderpädagogik-Ausbildung angeboten wird. Es gibt auch gemeinsame Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekte. Das ist aber noch längst nicht in allen Regionen der Schweiz so. Wo sehen Sie die Zukunft der Sonderschulen? Ich sehe sie im Rahmen einer Schule für alle. Eine Schule für alle bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam die Schule des Wohnquartiers besuchen und dort eine Antwort auf ihre Bedürfnisse erhalten: Integration in eine Regelklasse, zeitlich begrenzte Einzel- oder Gruppenförderung inner- oder ausserhalb der Klasse, oder auch Besuch einer Sonderklasse. Die Sonderschulen mit Ihrem Knowhow werden so zu einem Teil der Regelschule. In der Vergangenheit haben wir spezialisierte Schulen für eine oder mehrere Beeinträchtigungen gebaut und fahren die Schülerinnen und Schüler manchmal über sehr weite Strecken dorthin. Das kostet viel Geld, das man in die Bildung investieren könnte. Wir werden wohl immer Sonderschulen brauchen, aber weniger als heute. Meine Vision sind quartierübergreifende kleine, wenn möglich an Regelschulen angegliederte Sonderschulen für Kinder mit sehr komplexen Bedürfnissen. Was benötigen wir für die Umsetzung einer Schule für alle? Es ist ein Projekt der gesamten Gesellschaft, und alle müssen dabei Schritte unternehmen: die Politik, die Hochschulen, die Lehrpersonen, jeder und jede Einzelne von uns. Von zentraler Bedeutung sind, wie gesagt, entsprechende Projekte der Schulleitungen. Hier gibt es bereits sehr innovative Beispiele, und von diesen müsste man mehr reden. Gerade auch die Sonderschulen können von sich aus aktiv solche Projekte angehen. * Romain Lanners, Dr. phil, Jg. 1970, ist Direktor des Schweizer Zentrums für Heil und Sonderpädagogik SZH «Die Schulleitungen der Regel und der Sonderschulen haben eine Vorrreiterrolle. Wichtig ist, dass auch die Sonderschulen die Zusammenarbeit mit der Regelschulen wollen.» Romain Lanners
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