10 ARTISET 09 I 2022 Eine unbekannte Zahl von Menschen mit Behinderung ist in der Schweiz von ihren politischen Rechten ausgeschlossen. Eine wegweisende Abstimmung im Kanton Genf führt jetzt zu einem Umdenken. Beseitigt werden müssen nicht nur juristische Hindernisse – sondern auch die faktische Benachteiligung. Von Elisabeth Seifert Grundrechte gelten für alle – ausnahmslos Menschen, die «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind», haben keine politischen Rechte. Das steht in Artikel 136 der Bundesverfassung. In der Wortwahl angemessener, in der Sache aber nicht minder deutlich, konkretisiert das Bundesgesetz über die politischen Rechte den Kreis jener Menschen, die vom Stimm- undWahlrecht ausgeschlossen sind: Es sind Menschen, die «wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebauftragte Person vertreten werden». Ein solcher Ausschluss aus den politischen Rechten kontrastiert klar mit Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention: «Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu geniessen.» Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, zu denen seit bald zehn Jahren auch die Schweiz gehört, «sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können…was auch das Recht und die Möglichkeit einschliesst, zu wählen und gewählt zu werden». Gemäss diesen Forderungen der UN-BRK dürfen Menschen mit Behinderung zum einen keine rechtlichen Hindernisse erfahren, ihr aktives und passives Stimm- und Wahlrecht wahrzunehmen. Und zum anderen dürfen sie bei der Ausübung ihrer politischen Rechte nicht benachteiligt sein. Wie viele ausgeschlossen sind, ist unklar Betroffen vom effektiven Ausschluss sind insbesondere Menschen mit psychischen oder kognitiven Behinderungen, dazu gehören auch Personen mit Demenz. Aufgrund fehlender Statistiken ist indes unklar, wie viele dies tatsächlich sind. Eine Vorstellung vermittelt die Statistik der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz: Im Jahr 2020 hatten schweizweit 14 050 erwachsene Personen eine umfassende Beistandschaft und waren damit in der Regel von ihren politischen Rechten ausgeschlossen – auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene. In der Praxis dürften es etwas weniger sein, wie Cyril Mizrahi gegenüber dem Magazin Artiset ausführt. Er ist Jurist bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, sowie Teilhaber der Anwaltskanzlei Droits égaux avocats et avocates in Carouge GE. In einigen Kantonen der Romandie sowie im Tessin, so Cyril Mizrahi, gelten nicht alle Personen mit einer umfassenden Beistandschaft als dauerhaft urteilsunfähig im Sinn des Bundesgesetzes – sie dürfen somit abstimmen. Der Wohnkanton kann also entscheidend dafür sein, ob jemand seine politischen Rechte wahrnehmen kann oder eben nicht. Dies auch deshalb, weil die Kantone unterschiedliche Kriterien dafür kennen, wann jemand unter eine umfassende Beistandschaft gestellt wird. Die meisten umfassenden Beistandschaften werden in der Romandie sowie im Tessin errichtet. Die Kantone Genf und Waadt verantworten rund ein Drittel der umfassenden Beistandschaften schweizweit. Gemäss Cyril Mizrahi werden damit womöglich Praktiken weitergeführt, die nicht mehr gerechtfertigt sind. Für Jan Habegger, stellvertretender GeschäftsIm Fokus
RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2NjEzOQ==