Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

ARTISET 09 I 2022 11 führer von Insieme Schweiz, spiegeln sich hier kulturelle Unterschiede: Der Schutz- und Fürsorgegedanke sei in der Westschweiz stärker verankert als in der Deutschschweiz. Verfassungsänderung in Genf – weitere Kantone folgen «Auch wenn eine verhältnismässig kleine Zahl ausgeschlossen wird, es sind immer noch zu viele», sagt Cyril Mizrahi. Der Ausschluss beruhe auf der Vorstellung, dass Menschen, die für die Bewältigung des Alltags auf den Schutz einer umfassenden Beistandschaft angewiesen sind, zur politischen Meinungsbildung nicht fähig seien. Dies treffe aber nicht zu: «Wie in der restlichen Bevölkerung gibt es auch in dieser Gruppe Menschen, die politisch aktiv sein wollen, und andere, die sich nicht in der Lage sehen oder kein Bedürfnis haben, sich mit politischenThemen zu beschäftigen.» Es sei schlicht nicht akzeptabel, Menschen von diesem Recht auszuschliessen, hält der Jurist ganz im Sinn der UN-BRK fest. Damit werde ihnen gleichsam die Qualität als Staatsbürgerin oder Staatsbürger abgesprochen. In einer Demokratie gehören die politischen Rechte zu den Grundrechten, unterstreicht auch Jan Habegger von Insieme Schweiz. «Diese müssen allen gewährt werden, egal ob jemand diese dann auch tatsächlich wahrnimmt oder nicht.» Nicht gelten lässt Cyril Mizrahi das immer wieder gehörte Argument, dass Menschen aufgrund der Schwere ihrer Behinderung leicht instrumentalisiert oder gar Opfer eines Betrugs werden können. «Es gibt viele Menschen, die bei ihren Entscheidungen auf ihr Umfeld hören.» Und: «Ich denke, dass man gerade bei Menschen mit Behinderung zurückhaltend damit ist, diese zu beeinflussen.» Es bestehe immer ein Risiko, dass Menschen versuchen, andere von ihrer Meinung zu überzeugen oder zu manipulieren, sagt Jérôme Laederach, Präsident des Branchenverbands Insos im Kanton Genf. Sollte es zu einem Betrug kommen, müsse man diesen gerichtlich ahnden. «Entzieht man aber Menschen im Hinblick auf einen möglichen Betrug ihre politischen Rechte, bestraft man die potenziellen Opfer und nicht die Täter», so Jérôme Laederach. Im Kanton Genf hat das langjährige Engagement von Politikerinnen und Politikern, darunter auch von Cyril Mizrahi, der für die SP im kantonalen Parlament sitzt, dazu geführt, dass die Genferinnen und Genfer Ende November 2020 mit grosser Mehrheit einer Anpassung der kantonalen Verfassung zugestimmt haben. Neu dürfen in Genf auf kantonaler und kommunaler Ebene alle Menschen mit Behinderung ohne jede Einschränkung wählen und abstimmen. Dem Beispiel Genf folgend, wurden in mehreren Kantonen, so in den beiden Basel, in Neuenburg und im Kanton Waadt, parlamentarische Vorstösse angenommen, die die politischen Rechte allen Menschen mit Behinderung gewähren wollen. In weiteren Kantonen wird das Thema diskutiert. Auf Bundesebene hat der Ständerat im März 2021 ein entsprechendes Postulat von Marina Carobbio (SP, Tessin) angenommen. Als Folge davon erarbeitet der Bundesrat derzeit einen Bericht. Die Kantone und der Bund machen sich damit auf einen Weg, den zahlreiche andere Länder schon länger beschritten haben. Unter anderem können in unseren Nachbarländern Frankreich, Österreich und Italien alle Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte wahrnehmen. Fehlende Unterstützung – auch wegen Vorurteilen Selbst wenn niemand mehr von der Wahrnehmung der politischen Rechte ausgeschlossen sein wird, bedeutet dies nicht, dass alle Personen ihre politischen Rechte auch tatsächlich wahrnehmen respektive wahrnehmen können. Ein grosser Teil der Erwachsenen mit Behinderung hat heute bereits zumindest theoretisch die Möglichkeit dazu – in der Praxis bleiben dennoch viele davon ausgeschlossen. Dies trifft insbesondere auf Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu, eine Gruppe, die Jan Habegger von Insieme Schweiz auf insgesamt rund 60000 Personen schätzt. Ein Fünftel bis höchstens ein Viertel derer, die tatsächlich abstimmen dürfen, machen das auch, meint Habegger. Und damit doch deutlich weniger als die stimmberechtigte Bevölkerung im Allgemeinen. Ein wichtiger Grund für diese Abstinenz sei die Komplexität des Wahl- und Abstimmungsmaterials, sind sich die Vertreter der Menschen mit Behinderung einig. «Junge Stimmberechtigte haben oft schon grosse Probleme, die Abstimmungsunterlagen zu verstehen, noch schwieriger ist das für Menschen mit einer geistigen Behinderung», stellt etwa Jérôme Laederach von Insos Genf fest. Diese Komplexität der Unterlagen führe dann dazu, wie Jan Habegger beobachtet, dass Eltern und auch Institutionen sich mit der Aufgabe allein gelassen fühlen, die Interessierten in der politischen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Aus diesen Gründen dürfte so manches Abstimmungskuvert ungeöffnet bleiben, obwohl sich die entsprechenden Personen – mit der nötigen Unterstützung – womöglich durchaus eine Meinung hätten bilden können «Mit einem Ausschluss wird diesen Menschen die Qualität als Staatsbürgerin oder Staatsbürger abgesprochen.» Cyril Mizrahi, Jurist in Genf, auch für Inclusion Handicap

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