ARTISET 09 I 2022 21 Die Aktivierungsfachfrau teilte ihre Besorgnis mit einer befreundeten Politologin der Universität Genf, Barbara Lucas. Auch sie stellte fest, dass Pflegeheime keine Aktivierungsangebote zum Thema Staatsbürgerschaft haben. Innert kurzer Zeit organisierten die beiden Frauen in der Résidence Mandement ein erstes Gespräch am Runden Tisch. Barbara Lucas stellte ein Team von Politologinnen und Politologen zusammen, die sich in die Heime begaben und dort die wichtigsten Punkte der Abstimmungsvorlagen erklärten. Dieses Vorgehen wiederholten sie mehrmals. Von insgesamt 45 Heimbewohnenden nahmen jedes Mal rund zehn Personen am Austausch teil. Einige davon waren immer dabei, andere kamen neu dazu. Nicht selten schlossen sich auch Mitarbeitende an. So ist schliesslich das Projekt «Voter en EMS» (Abstimmen im Pflegeheim) entstanden. Das war im Jahr 2005. Sabine Udry Dumoulin schätzte vor allem die Fähigkeit der Politologinnen, die Themen allgemein zugänglich zu machen, aber auch ihr offenes Ohr und ihre wohlwollende Haltung. «Die Teilnehmenden der Gesprächsrunden fühlten sich wertgeschätzt und als Bürgerinnen und Bürger mit wertvoller Erfahrung anerkannt», so die Aktivierungsfachfrau. Es geht darum zu unterstützen, nicht zu überreden Die eher informelle Vorgehensweise der Résidence Mandement machte Schule und führte imDepartement für Politikwissenschaften der Universität Genf zu einem Pilotprojekt unter der Leitung von Barbara Lucas. Eine erste gründliche Bilanz berichtete über die ab 2005 in der Résidence Mandement informell gesammelten Erfahrungen sowie die zwischen 2007 und 2008 in sechs Genfer Pflegeheimen durchgeführten Gespräche am runden Tisch. «Das Ziel des Projekts ‹Voter en EMS› besteht nicht darin, die Heimbewohnenden zum Abstimmen zu bringen. Vielmehr geht es darum, sie im Hinblick auf eine deliberative Demokratie bei der Teilnahme an der Debatte selbst zu unterstützen», erklärten Barbara Lucas und ihre Kollegin Anouk Lloren 2009 in einem Artikel. Dieser trägt den schönen Titel «La vieille dame et le politique» und ist eine Hommage an eine inzwischen verstorbene Heimbewohnerin, die mit fast 90 Jahren zum ersten Mal an einer Abstimmung teilnahm. Im gleichen Artikel verweisen die Autorinnen auf diverse Studien, die zeigen, dass die Heime für Betagte bei der Erhaltung einer aktiven Teilnahme am politischen Leben eine entscheidende Rolle spielen können. Dazu brauche es jedoch einen geeigneten Rahmen und spezifische Ressourcen. Sabine Udry Dumoulin sieht dies auch so. Für sie geht es neben der wiederholten Sensibilisierung der Menschen für Abstimmungen und Wahlen aber in erster Linie darum, das Selbstbestimmungsrecht der Betagten sicherzustellen, ihren Einbezug in das Heimleben sowie ihre Kontakte zu den Mitmenschen zu fördern. Vor allem sollen sie immer selbst entscheiden können, zum Beispiel in Bezug auf die Aktivitäten, die Einteilung des Tages, Ausflüge, Mahlzeiten usw. Obwohl das Pilotprojekt «Voter en EMS» nach einigen Jahren anderen Projekten wich, hat es zweifellos das Bewusstsein der Pflegeteams für Fragen zur Selbstbestimmung gestärkt und die Kommunikation mit den Heimbewohnenden verändert. «Wir nutzen jede Gelegenheit, um sie nach ihren Wünschen zu fragen, sei es im Rahmen von individuellen Treffen, Gesprächsgruppen oder Umfragen. Staatsbürgerin zu sein, beginnt damit, die eigene Meinung äussern zu können.» Heute werden die Stimmcouverts den Heimbewohnenden zusammen mit ihrer Post persönlich überreicht. «Wir nutzen diesen Moment, um mit Menschen zu sprechen, die selten an den Gemeinschaftsaktivitäten des Heims teilnehmen. So weisen wir sie auf kommende Abstimmungen hin und erinnern sie daran, dass sie ihre Stimme abgeben können, dass sie Bürgerinnen mit Rechten, aber auch mit Pflichten sind, dass die Welt sie braucht…», sagt Sabine UdryDumoulin abschliessend. Die inzwischen verstorbene Frau J. nahm im Alter von 89 Jahren zum ersten Mal an einer Abstimmung teil! (Résidence Mandement). Foto: Privat
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