ARTISET 09 I 2022 25 Kinder und Jugendliche für Politik interessieren: Klar, dafür gibt es doch das Jugendparlament! Und die Jungparteien, von Juso über die Jungen Grünen bis zur Jungen SVP! Das stimmt. An sich. Aber Carol Schafroth wiegelt rasch ab: «Viel zu hoch gegriffen.» Als Geschäftsführerin bei Campus für Demokratie in Bern beschäftigt sie sich unter anderem mit der Frage, wie man Kinder, Jugendliche und Einwohnerinnen und Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht in ihrer politischen Bildung und Partizipation fördern kann. Für sie steht fest: «Will man Kinder und Jugendliche auf politische Teilhabe vorbereiten, lautet das wichtigste Stichwort ‹Partizipation im Alltag›.» So fange die politische Bildung an: in der Familie, in der Schule oder eben in der Institution. In der Schweiz sei allerdings die politische Bildung gerade in der Schule noch ein allzu nebensächliches Thema, und vielerorts gehe dieser Punkt ein bisschen unter: «Viele Lehrkräfte scheuen sich davor, weil sie Angst haben, die Schulkinder zu stark zu beeinflussen», erklärt Schafroth. Zwar steht im Lehrplan 21 deutlich: «Bei der Politischen Bildung wie auch bei der ‹Bildung für Nachhaltige Entwicklung› geht es darum, Menschen zu befähigen, sich aktiv und selbstbestimmt an der Gestaltung unseres Zusammenlebens zu beteiligen.» Kompetenz: Interessen wahrnehmen Zu den wichtigen Kompetenzen gehört laut Education 21, dem nationalen Kompetenz- und Dienstleistungszentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung, dass die Schülerinnen und Schüler «ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen und formulieren» können. Und: «Oberstes Ziel der politischen Bildung ist die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Bereitschaft des Individuums zum politischen Handeln.» Nur: Wie diese Fähigkeiten und Fertigkeiten und die Bereitschaft zum politischen Handeln vermittelt werden können, wird nirgendwo so genau festgehalten, das bleibt je nach Gemeinde grossteils den Lehrerinnen und Lehrern überlassen. Carol Schafroth bei Campus für Demokratie empfiehlt als Richtlinie jeweils den «Beutelsbacher Konsens», den die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben hat (siehe Kasten Seite 27). Etwas Entsprechendes aus der Schweiz existiere noch nicht, sagt sie, aber die drei Punkte Überwältigungsverbot, Kontroversitätsprinzip und Schülerorientierung seien auch für Schweizer Lehrkräfte wegweisend und wichtig: «Die Schule prägt immer irgendwie politisch, wichtig ist deshalb die Vielfalt.» Jugendthemen: Piercing und Mode Der wichtigste Einstieg geschehe allerdings schon früher, und zwar im Alltag, sagt sie: «Mitbestimmen heisst für die Kinder und Jugendlichen lernen, Bedürfnisse auszudrücken, aber auch auszuhalten und damit umzugehen, wenn einmal etwas nicht so ausgeht, wie sie es gewollt hätten.» Um das möglichst früh zu erreichen, empfiehlt sie, Kinder und Jugendliche altersgerecht abzuholen, das heisst bei ihren Alltagsthemen. Sie und ihr Team arbeiten zu diesem Zweck mit einem Set von Postkarten. Eine davon zeigt eine Skatebahn, also auf den ersten Blick ein Freizeitthema. Darauf gedruckt steht aber: «Das ist auch Politik.» Carol Schafroth nickt und erklärt, tatsächlich sei das ein perfektes Thema zum Einstieg: So können Lehrpersonen oder externe Projektbegleitende mit den Jugendlichen besprechen, was in einer Gemeinde abläuft, bis eine Skatebahn gebaut werden kann, wer für die Sicherheit verantwortlich ist, wer das finanziert, wie man die Benutzung regelt und vieles mehr. «Das sind Themen, für die sich Jugendliche sofort begeistern lassen», sagt sie. Andere Postkarten zeigen einen jungen gepiercten Mann oder das Schaufenster eines Modegeschäfts mit dem Schild «Sale». Auch darin stecken zahlreiche Themen für lebensnahe politische Diskussionen: Wer darf sich ab welchem Alter piercen lassen, welche Vorschriften müssen Piercing-Studios erfüllen, und dürfen Lehrmeister ein Piercing-Verbot erlassen? Oder eben: Welche Vorschriften bestehen für die Einfuhr von Stoffen und Kleidern, wann darf ein Ausverkauf stattfinden, und wer bestimmt über die Ladenöffnungszeiten? Passe man die Themen an die alltägliche Lebenswelt junger Menschen an, reagierten viele, die sich bis anhin als «völlig apolitisch» bezeichnet haben, oft ganz erstaunt und merken: «Oh, ich bin ja politisch durchaus interessiert!» Das sind Momente, die Carol Schafroth begeistern, denn für sie mündet politisches Engagement nicht nur imAbstimmen Wie lernen Kinder und Jugendliche, auch solche, die in Institutionen aufwachsen, sich für die Gemeinschaft, für Politik zu interessieren? Indem sie zuerst lernen, sich für die eigenen Interessen und Anliegen starkzumachen und diese zu vertreten, sagen Fachleute. Und indem man sie bei ihren Alltagsthemen abholt: Skatebahn. Piercings. Oder Mode. Von Claudia Weiss
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