ARTISET 09 I 2022 31 «La Mif»: Fiktion oder Realität? Ganz klar Fiktion. Selbstverständlich ist es in meinem Berufsleben zu ähnlichen Situationen gekommen. Aber wir haben nicht unsere eigene Geschichte gespielt. Sie kommen gerade aus Südkorea zurück, wo der Film auf einem Festival gezeigt wurde. Wie wurde er aufgenommen? Tatsächlich wurde unser Film für das PyeongChang International Peace Film Festival ausgewählt.Wir haben zwar keinen Preis gewonnen, aber für uns hat es sich trotzdem so angefühlt! Der Film ist sehr gut angekommen. Ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wie viele Menschen er berührt – selbst in Südkorea! Gewalt, körperlich oder verbal, und emotionales Leid bei Jugendlichen sind also universelle Themen? Ja, es scheint so. Nach der Filmvorführung haben wir Publikum und Journalisten getroffen. Sie zeigten sich beeindruckt, dass wir in diesem Film Dinge so gezeigt haben, wie sie sein könnten, und dass wir offen darüber gesprochen haben. Bei ihnen, so sagten sie, sei Kindesmisshandlung mehr als üblich. Nur dass sie ein Tabuthema sei und sich anscheinend niemand damit beschäftigen wolle. Warum haben Sie sich bereit erklärt, in diesem Film mitzuwirken? Mich hat überzeugt, dass Jugendliche sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen des Heims am Projekt teilnahmen. Und für mich war es ein guter Zeitpunkt: Im Dezember liess ich mich pensionieren, und Anfang des darauffolgenden Jahres starteten wir mit Improvisationsworkshops, um gemeinsam die Filmcharaktere zu erarbeiten. Wie erlebten Sie dann Ihr Kameradebüt? Dank den Improvisationsworkshops lernte ich sehr schnell, die Kamera zu vergessen. Zwei Jahre lang trafen wir uns regelmässig zuWochenendworkshops, um uns an Kamera, Mikrofon und die Arbeitsweise von Fred Baillif zu gewöhnen. «Es ist nicht eure Geschichte, aber wenn ihr spielt, müssen es ganz eure Emotionen sein», sagte er uns. Er forderte die Mädchen auf, zu reden wie immer, also auch Kraftausdrücke zu verwenden. Die Improvisationsworkshops wurden während der gesamten Dreharbeiten fortgesetzt: Wir kannten das Drehbuch nicht, und es gab keine vorgegebenen Dialoge. Die Jugendlichen und das Sozialpädagogenteam kannten sich untereinander grösstenteils. Um fiktive Situationen zu spielen, mussten wir uns so verhalten wie sonst in unserem Alltag. «Seid ganz euch selbst», wiederholte Fred immer wieder. War diese Nähe zur Realität mit vertrauten Situationen nicht verunsichernd? Ja, manchmal war es schwierig, beides voneinander zu trennen. Und ich war auch nicht immer einverstanden, denn es gab Szenen im Film, die so in der Realität nicht ablaufen. Aber genau das unterscheidet Fiktion und Dokumentarfilm. Es gab nur eine einzige Szene, bei der ich sagte: «Nein, so etwas täte ich weder in der Realität noch für eine Fiktion!» Einige der Mädchen kannten das Heimleben und hatten Gewalt erfahren. Wie wurden sie darauf vorbereitet, sensible Szenen zu spielen, die ja auch Traumata reaktivieren könnten? Diese Frage müsste man den Mädchen selbst und Fred Baillif stellen! Aber ich weiss, dass er sich sehr um sie gekümmert hat. Er hat sich Zeit für jede und jeden Einzelnen von uns genommen, angefangen mit Einzelgesprächen. Auch die Workshops trugen dazu bei, dass wir uns besser kennenlernten, Zeit zusammen verbrachten, die Filmcharaktere erarbeiteten und unsere Grenzen ausloteten. Bei einer Filmdauer von 110 Minuten werden Spannungen, Gewalt und Infragestellen, aber auch Liebe, Solidarität und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit sehr verdichtet. Widerspiegelt das den Alltag eines Heims? In der Realität gibt es diese Spannungen auch, aber nicht ständig. Dasselbe gilt für die Gewalt, die teils noch wesentlich schlimmer ist als im Film. Das «La mif» bedeutet im französischen Slang «die Familie». Es ist auch der Titel eines Filmdramas rund um Teenager: Sie leben in einer Familie, die sie nicht selbst ausgesucht haben, unter der Leitung von Lora alias Claudia Grob, die auch in Wirklichkeit Heimleiterin war. Interview: Anne-Marie Nicole
RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2NjEzOQ==