ARTISET 09 I 2022 33 erklären wir übrigens jeweils in den Publikumsgesprächen nach der Vorführung: Wir erleben solche Situationen, allerdings nicht so intensiv. Es kamen Einwände, dieser Film dürfte nicht gezeigt werden, da er ein schlechtes Licht auf unseren Beruf werfe. Andere wiederum – die Mehrheit – sehen den Beruf darin positiv dargestellt. Ich finde auch, dass ihm der Film gerecht wird. Er zeigt das Engagement der Teams, ohne die Müdigkeit, Erschöpfung und Ohnmacht zu verbergen. Und zugleich ohne die unbeschwerten, heiteren Momente zu vergessen. Der Film bildet auch gut die Schwierigkeiten der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen ab, das richtige Mass an Nähe und Distanz zu den Jugendlichen zu finden: nah genug, um ihnen die Zuneigung und den Schutz zu vermitteln, die sie nie hatten, aber nicht allzu nah, um professionell zu bleiben. In der Praxis ist man da tatsächlich dauernd hin- und hergerissen. Das Team muss sich auf eine gemeinsame Haltung verständigen, was aber nicht immer gelingt. Auch das gibt der Film gut wieder. Jede und jeder von uns hat eine eigene Geschichte, eigeneWerte, eigene Überzeugungen. Diese Unterschiede können in gewissenTeams zu grösseren Spannungen führen. Bei den Besprechungen müssten wir vielleicht zuerst über uns selbst, unsere «innereWetterlage» reden, bevor wir über die Jugendlichen sprechen. Die Arbeit mit diesen Jugendlichen konfrontiert einen mit den eigenen Widersprüchen und bedeutet, sich ständig infrage stellen zu müssen. Wie überlebt man in diesem Beruf? Meine Erfahrung hat mir dieWerkzeuge an die Hand gegeben, um zu überleben. Emotionale Aufrichtigkeit zählt dazu, das bedeutet, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Grenzen zu anerkennen – auf die Gefahr hin, dass man sich fragt, ob man diese Arbeit überhaupt weiter ausüben kann. Ich habe auch gelernt, mit allen auf Augenhöhe zu kommunizieren, das fördert den gegenseitigen Respekt. Auch die positive Disziplin hat mich beeinflusst. Wenn man sich um ein Kind kümmert, muss man konsequent und wohlwollend zugleich sein: «Ich liebe dich, aber meine Antwort lautet Nein» – das ist alles. Dann habe ich mich auch viel mit den Arbeiten von Maslow und Adler beschäftigt: Für sie umfasst die Pyramide menschlicher Grundbedürfnisse Zugehörigkeit, Teilhabe und Nützlichkeit. In meinem Berufsleben habe ich mir geschworen, diese Werte nie zu missachten – egal, wer mir gegenübersteht. Claudia und Lora: Was haben sie sich gegenseitig gegeben? Dank ihrer Erfahrung hat Claudia eine gewisse Gelassenheit vermittelt. Von ihr hat Lora gelernt, Dinge anzusprechen und nicht schockiert zu sein von dem, was sie sieht und hört. Claudia ihrerseits kann durch Lora zeigen, wer sie ist. Für mich war es sehr schwierig, mich auf dem Bildschirm zu sehen und mit mir als Figur vertraut zu werden. Ich musste auch lernen, Komplimente anzunehmen, ohne meine Rolle kleinzureden. Und dadurch habe ich an Wertschätzung für mich selbst gewonnen. Hat diese Erfahrung Ihren Blick auf die Betreuung von Jugendlichen in Schwierigkeiten geändert? Nicht unbedingt. Ich glaube, dass wir uns so verhalten haben wie auch in unserer beruflichen Praxis. Allerdings möchte ich Jugendliche ermutigen, an kulturellen oder künstlerischen Projekten und sonstigen Erlebnissen teilzunehmen, in denen sie sich ausdrücken können, das fördert die Integration. Sie sollen sich trauen, stolz auf sich zu sein. Ich habe gesehen, wie gut das Dreherlebnis den Mädchen getan hat, die das Heimleben kennen, wie sehr es sie aufgebaut hat. Der Film hat zahlreiche Preise gewonnen. Sie selbst sind mit dem Quartz-Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet worden. Welche Folgen hat das für Sie? Da sehe ich derzeit gar keine. Ich werde diesen Film einzig noch bei einigen Veranstaltungen, auch im Bereich der Sozialarbeit, begleiten. EIN SOZIALPÄDAGOGISCHES PROJEKT «La Mif» ist das dritte Fiktionsprojekt des Genfer Filmemachers Fred Baillif, einem autodidaktischen Filmemacher, der auch Basketballprofi und diplomierter Sozialarbeiter war. Der Anfang Jahr ins Kino gekommene Film hat zahlreiche Preise erhalten, darunter drei Auszeichnungen des Schweizer Filmpreises: den Quartz für die beste Darstellerin (Claudia Grob), den Preis für die beste Montage (Fred Baillif) und den Preis für die beste Nebendarstellerin (Anaïs Uldry). Die Handlung spielt in einem Heim, in dem junge Mädchen zusammen mit den Sozialpädagoginnen und -pädagogen eine neue Familie finden, eine Gemeinschaft, wie sie sie nie zuvor erlebt haben. Krisen und Konflikte sind unausweichlich. Als ein Zwischenfall das Pulverfass zündet, kommt ein festgefahrenes, rückständiges System ans Licht. Die Szenen vermitteln starke Emotionen und wechseln ab zwischen Spannungen, Meinungsverschiedenheiten, Humor und Wohlwollen. Die meisten Szenen spielen in einem echten Jugendheim. So konnte man mit Laienschauspielerinnen und -schauspielern arbeiten, in einem Umfeld, das ihnen vertraut ist. «Als Filmemacher möchte ich die Laienschauspieler darin unterstützen, das auszudrücken, was manchmal schon lange in ihnen versteckt ist», erklärt Fred Baillif. Aktuell
RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2NjEzOQ==