ARTISET 09 I 2022 9 sondern einer, der anpackt, «einer, der nicht aufs Maul hockt». Er setzt sich auf dem Rollstuhl zurecht und sagt klar: «Ich bin Cem, SP-Politiker, Kämpfer für Gleichstellung und Macher.» Ein St.Galler Stadtparlamentarier hatte ihn einst scherzhaft als «Cems Bond, Agent für Inklusion» bezeichnet, und das Wortspiel gefiel ihm so gut, dass er es für seinen Facebook-Account übernommen hat: Er will als Person wahrgenommen und als Politiker ernstgenommen werden. Sein Blick wird scharf, als er sagt: «Behindert bin ich nur, wenn ich eine Treppe vor mir habe oder kein rollstuhlgängiges WC finde.» Politik heisst auch gerechte Bildung Schon als Jugendlicher eckte er öfters an mit seinen klaren Ansichten und dezidierten Aussagen. Er grinst und sagt fast ein bisschen stolz: «Ich war ein unbequemer Schüler.» Mit 18 Jahren schliesslich hätte er um ein Haar den Kanton Appenzell Ausserrhoden angezeigt: In der Sonderschule für Menschen mit Behinderung habe er längst nicht die Förderung erhalten, die ihmmit seinen intellektuellen Fähigkeiten zugestanden habe. «Dadurch habe ich einen grossen Nachteil erlitten», fand er und forderte Entschädigung. Wenn er über solche Hemmnisse spricht, über «sozialen Gugus» und falsch verstandene Samthandschuhe, rutscht ihm auch schon mal ein Kraftausdruck heraus. «Zum Kotzen», sagt er dann ungeniert. Er, der als Siebenjähriger mit seinen Eltern von Izmir in die Schweiz gekommen war, sei jeweils schon vor dem Unterrichtsbeginn in der Schule gesessen, um schnell Deutsch zu lernen, und die Lehrer hätten ihm attestiert, dass er ein kluger Kopf sei. Die entsprechende Förderung hingegen vermisste er bis über die Schule hinaus. Ob er in der Regelschule eine glücklichere Schulzeit gehabt hätte? «Da sage ich deutsch und deutlich ja!» Und: «Ich habe ja keinen anderen Nachteil, als dass ich nicht laufen kann.» Alles, was er sich seither in unzähligenWeiterbildungskursen selber an Wissen zusammentragen musste, hätte er seiner Überzeugung nach mit entsprechender Förderung viel früher und einfacher erreichen können. Deshalb liess er nicht locker, bis der Kanton Appenzell 4000 Franken «für Grammatikverbesserung» verfügte. Nach der Schulzeit absolvierte Kirmizitoprak eine Ausbildung zum Industriepraktiker. Eine Notlösung, die ihm wenig Freude bereitete, er hätte sich eine KV-Ausbildung erträumt. Schon bald fiel er durch seine Forderungen und politischen Äusserungen auf und wurde von der Institutionsleitung verwarnt. Er reagierte empört und bezeichnete das als reines Mobbing. «Klar mag es ungewöhnlich sein, dass ein 18-Jähriger so klare politische Meinungen äussert», sagt er. Dennoch sei es gut gewesen, dass er bald darauf ins St. Galler Imbodehuus ziehen konnte: Dort erfuhr er endlich Verständnis und erhielt die Unterstützung, die er lange vermisst hatte, ja, dort ermunterten sie ihn sogar, 2012 seinen ersten politischen Anlass vor der Abstimmung über die Kürzung der Ergänzungsleistungen durchzuführen. Er schaffte es, den Regierungsrat ins Haus zu holen, und startete damit seine politische Karriere: «Es machte förmlich Klick!», erinnert er sich, und von da an war er nicht mehr zu bremsen. Politik benötigt auch Kreativität Nach vier vergeblichen Arbeitseingliederungsversuchen meinte er: «Warte ich zeige euch jetzt, wie Inklusion geht!» Er organisierte sich eine Weiterbildung in lösungsorientierter Beratung und Konfliktmanagement, zog in eine eigene Wohnung und richtete im Wohnzimmer seine neue Beratungsstelle Inklusion ein: Dort unterstützen er und seine Mitarbeiterin, die er selber bezahlt, andere, die sich von Institutionen, Ämtern oder Mitmenschen ungleich behandelt fühlen oder Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Als Geschäftsform hat er absichtlich die Einzelfirma gewählt; ein Verein, er schüttelt den Kopf, wäre ihm zu schwerfällig gewesen: «Meine Firma ist klein, aber meine Pläne sind gross.» Tatsächlich sprudelt er fast über vor Ideen: Gegenwärtig steht er in Milo Raus Inszenierung von «Wilhelm Tell» im Zürcher Schauspielhaus auf der Bühne, verhilft Ratsuchenden zu Gleichstellung und leitet das Abstimmungskafi oder Anlässe zuThemen wie Behinderung und Sexualität. In zwei Jahren will er ein eigenes Theaterstück zu diesem Thema produzieren und damit einTabu auf die Bühne bringen, und für nächstes Jahr plant er ein Podium zum Thema «Strukturelle Gewalt in Institutionen»: Cem Kirmizitoprak ist flink im Denken und fantasievoll im Umsetzen. Und er besitzt eine gute Portion Selbstbewusstsein. Nach dem Gespräch dreht er im Elektrorollstuhl eine elegante kleine Runde durch die Bahnhofhalle und posiert für das Foto. Sein höchstes Ziel ist, dass es seine Beratungsstelle eines Tages gar nicht mehr braucht, weil Inklusion etabliert ist. Bis dahin kämpft er mit vollem Einsatz. Übermütig ruft er: «Genau, ich mache keine kleinen Projekte – ich will Elefanten machen!» Infos ➞ www.beratungsstelle-inklusion.ch Gemeinsamer Marsch: «Wir lassen uns nicht von euch verwalten!» 29. November 2022, 14 Uhr. Besammlung: St. Leonardspärkli St.Gallen. Im Fokus
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