Soziale Unernehmen im Wandel | Magazin ARTISET | 9-2023

ARTISET 09 I 2023 43 was im Leben wichtig war und am Ende noch wichtig sein könnte, gehören unbedingt zu diesen letzten Phasen.» Das Pflegehotel St. Johann verfüge über sehr gut ausgebildete Palliative-Care-Mitarbeitende, und wo vielfältige Methoden, grosse Fachkenntnisse, spezialisierte Fachkräfte und viel Erfahrung zusammenträfen, könne das Lebensende kein Tabu sein. Tatsächlich sei es eher spät, wenn sich Bewohnerinnen und Bewohner Fragen zum guten Leben und guten Sterben erst nach dem Eintritt stellen, räumt Gyr ein. «Aber immer noch nicht zu spät!» Vor allem könnten Gespräche über Gelebtes und Ungelebtes nicht zuletzt auch den Angehörigen wichtige Anregungen mitgeben. «Wir möchten die Leute vorbereiten und eine Diskussion anstossen.» Wichtig ist Gyr allerdings zu betonen, dass im Inneren des Pflegehotels längst nicht nur Raum für den Tod sei: «Vielmehr wird gelebt, gelacht, gepflegt und gesungen – und erst am Ende halt auch gestorben.» Das werde oft übersehen, dabei stehe das Pflegehotel eigentlich für «Leben pur»: Monatliche Tapas-Abende, Wähenfest und Konzerte in der Kapelle oder im Park – das Pflegehotel St. Johann sei letztlich ebenso mit dem Leben verbunden wie mit der Vergänglichkeit. Genau wie die Frage auf den fünf grossen Tafeln. Fast ein Jahr hängen diese inzwischen neben dem Eingang des Pflegeheims. Ein Bericht in der Gratis-­ Zeitung «20 Minuten» löste auch beim Lesepublikum eine ganze Flut an Reaktionen aus, und zwar in der ganzen Bandbreite von «Wie kann man so eine Frage stellen?» bis «Was für eine Superidee!» Für André Gyr passt beides – für ihn zählt, dass die Diskussion ins Rollen gebracht wird. Auch bei ihm persönlich hat – ausgelöst durch Todesfälle in der eigenen Familie und das Älterwerden seiner Mutter – der einfache Satz «Bevor ich sterbe, möchte ich …» einiges ins Rollen gebracht und ihn dazu angeregt zu überlegen, was er mit seinem Leben noch anfangen möchte und wie er das Älterwerden gestalten möchte. An einem offenen Themenabend im September will er daher unter dem Titel «Das letzte Rätsel» Fachleute über Fragen diskutieren lassen, die nicht nur ihn zutiefst beschäftigen: «Was genau geschieht im Moment des Sterbens?» «Gibt es wirklich auch ein Zurück?» «Welches Organ stirbt zuletzt?» «Gibt BEFORE I DIE Die New Yorker Künstlerin Candy Chang startete das Projekt «Before I Die» 2011, nachdem ihre mütterliche Freundin Joan gestorben war, «während sie doch noch Klavierspielen lernen, den Ozean sehen und in Paris leben wollte». Damit die Menschen im Alltag ihre Träume und Wünsche nicht vergessen, bemalte Chang die Wände eines leerstehenden Hauses mit Tafelfarbe und dem Satzanfang «Before I die, I want to …». Das Echo war riesig, die Wände immer wieder schnell voll, und es meldeten sich von überall her Leute, die auch mitmachen und Wände montieren wollten. Inzwischen sind 5000 Wände in über 75 Ländern und in über 35 Sprachen entstanden. Wer Interesse hat, findet im untenstehenden Link eine Anleitung zum Vorgehen. Noch bis Ende September hängen die fünf grossen Tafeln beim Eingang des Pflegehotels St. Johann in Basel, danach ziehen sie weiter nach Schwyz ins Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter. TOOLKIT DOWNLOAD BEFORE I DIE: VERANSTALTUNGSREIHE ST. JOHANN: Aktuell es eine Seele – wie lange bleibt sie im Diesseits?» Dies seien alles Fragen, die eigentlich viele Menschen bewegen, sagt Gyr. Er hofft daher, dass die Teilnehmenden des Themenabends gemeinsam einer Antwort näherkommen (siehe Hinweis). Die Schiefertafeln hingegen werden in ein paar Wochen weiterreisen. Nach einem Jahr haben inzwischen alle aus dem Quartier, die das wünschten, ihre Gedanken deponiert, die meisten aus dem Herzen und echt, einige vielleicht ein wenig scherzhaft wie jene Person, die schrieb: «Jemandem eine richtige Ohrfeige hauen.» In dieser Zeit hat André Gyr unzählige Male frühmorgens die Tafeln saubergewischt, damit neue Worte Platz finden, und die kurzgeschriebenen Kreiden durch neue ersetzt. Das sei aber der einzige Aufwand, und der halte sich sehr in Grenzen verglichen mit dem Effekt. Schon bald werden die Tafeln in Oberarth SZ neben dem Eingang des Kompetenzzentrums Gesundheit und Alter montiert: «Mein Kollege Stefan Imhof war der schnellste Bewerber – und der einzige», sagt André Gyr. Er wirft einen Blick auf die fast vollgeschriebenen Tafeln und lacht dann leise, die zögerliche Nachfrage wundert ihn nicht: Eine solche Frage neben dem Eingang in ein Pflegeheim? «Ein bisschen Mut und Engagement braucht es schon.» «Leben und Sterben sind untrennbar miteinander verbunden, aber oft verdrängen wir das Sterben einfach.» André Gyr, Geschäftsführer des Pflegehotels St. Johann in Basel

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