ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Ausgabe 09 I 2024 Familien und eine Kita beleben einen Genfer Mehrgenerationen-Komplex Ein neues Reporting-Tool unterstützt soziale Institutionen in ihrer Strategieentwicklung Umsetzung der Pflegeinitiative: Bessere Arbeitsbedingungen müssen finanziert sein Im Fokus Grenzverletzungen angehen
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ARTISET 09 I 2024 3 Editorial «Fachpersonen sind aufgrund ihrer Professionalität zwar sensibilisiert für solche Fragen, sie tragen aber auch eine besonders hohe Verantwortung.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Eine fragile körperliche, psychische oder kognitive Verfassung macht Menschen abhängig von ihrem sozialen Umfeld, von Angehörigen, aber auch von Fachpersonen im ambulanten oder stationären Bereich. Diese Abhängigkeit verleitet die scheinbar Starken – bewusst oder unbewusst – immer wieder dazu, über diese Menschen zu bestimmen, ihre Meinung und Haltung nicht zu respektieren oder gar ihre körperliche Integrität nicht zu wahren. Grenzverletzungen haben viele verschiedene Ausprägungen. Ganz besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen sowie betagte und hochbetagte Menschen. In die gesellschaftliche Debatte Eingang gefunden haben zunächst Grenzverletzungen gegenüber Minderjährigen, gerade auch die sexualisierte Gewalt. Seit einigen Jahren wächst das allgemeine Bewusstsein dafür, dass auch ältere Menschen vermehrt von Gewalt betroffen sind. Und jetzt, ausgelöst durch den Bericht des Bundesrats zur Gewalt an Menschen mit Behinderungen, wächst die Sensibilisierung für die Gewaltthematik auch in diesem Bereich. Wichtig ist, dass sich gerade auch Leistungserbringer mit möglichen Grenzverletzungen auseinandersetzen. Fachpersonen sind aufgrund ihrer Professionalität zwar sensibilisiert für solche Fragen, sie tragen aber gleichzeitig auch eine besonders hohe Verantwortung. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren hat in der Folge des genannten bundesrätlichen Berichts denn auch Mitte Juni 2024 ein «Positionspapier» verabschiedet, in dem sich die Kantone unter anderem dazu bekennen, den Schutz vor Gewalt in stationären Angeboten auszubauen (Seite 10). Unabhängig davon sind eine Reihe von Institutionen aus den verschiedenen Unterstützungsbereichen derzeit damit beschäftigt, das Thema Grenzverletzungen mit besonderen Massnahmen anzugehen. Mit dem Alters- und Pflegezentrum Serata in Zizers GR wendet erstmals eine Einrichtung im Altersbereich den Bündner Standard an, um die Mitarbeitenden noch besser für das Thema zu sensibilisieren – und eine «Kultur des Hinschauens» zu entwickeln (Seite 6). Die beiden Behinderteninstitutionen Le Foyer in Lausanne und Fara in Fribourg setzen auf das Konzept «Bientraitance», was frei übersetzt «gute Behandlung» bedeutet: Unter anderem sollen eine gute Gesprächskultur sowie die Partizipation von Bewohnenden Machtmissbrauch verhindern (Seiten 16 und 20). In der Zürcher Kinder- und Jugendinstitution GO DEF sind die Verantwortlichen derzeit mit der Überarbeitung des Verhaltenskodex beschäftigt, der Mitarbeitende und Schutzbefohlene in die Pflicht nimmt (Seite 24). Den zweiten Teil des Magazins prägen zwei für den Bereich der Langzeitpflege wichtige politische Themen: Curaviva-Geschäftsführerin Christina Zweifel analysiert gemeinsam mit Catherine Bugmann, Projektleiterin Politik von Artiset, die Umsetzungsschritte der Pflegeinitiative (Seite 34). Ende November kommt die Vorlage zur einheitlichen Finanzierung vors Stimmvolk: Die Bedeutung dieser Vorlage gerade auch für die Langzeitpflege erläutern Tschoff Löw, der Leiter Politik von Artiset (Seite 45), sowie Artiset- Geschäftsführer Daniel Höchli (Seite 50). Titelbild: Grenzverletzungen sind für betroffene Menschen jeden Alters sehr belastend. Foto: Symbolbild/Marco Zanoni
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Inhalt ARTISET 09 I 2024 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Salomé Zimmermann (sz); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 3. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Tiefenaustrasse 2, 8640 Rapperswil, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@ fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 0319631111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 03138533 33, E-Mail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8 × deutsch (je 4600 Ex.), 4 × französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2023 (nur deutsch): 3167 Ex. (davon verkauft 2951 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 06 Erstmals führt ein Alters- und Pflegeheim den Bündner Standard ein 10 Die Kantone wollen in Institutionen den Schutz vor Gewalt ausbauen 14 Ein Leitfaden gibt praktische Tipps 16 «Le Foyer» in Lausanne: Wie Partizipation dem Machtmissbrauch entgegenwirkt 20 Stiftung Fara in Fribourg: Eine neue Strategie setzt auf «Bientraitance» 24 Ein neuer Verhaltenskodex soll zur Sensibilisierung beitragen kurz & knapp 28 Kinder und Jugendliche besser in Entscheide der Kesb einbeziehen Aktuell 30 Wie das Zusammenleben diverser Gruppen unter einem Dach funktioniert 34 Bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen finanziert sein 38 Mit sozialen Medien auf Personalsuche 40 Stärkung der Arbeitssicherheit 43 Ein neues Reporting-Tool für soziale Institutionen 45 Bedeutung der einheitlichen Finanzierung 48 Soziale Berufe in der Altersarbeit besser nutzen Politische Feder 50 Daniel Höchli, Geschäftsführer Artiset 16 30 50 Der Bündner Standard Ein Video zur Umsetzung im Alterszentrum Serata in Zizers:
6 ARTISET 09 I 2024 Mit Konflikten umgehen lernen – dank dem Bündner Standard Dominique Cerveny, Institutionsleiterin des Alters und Pflegezentrums Serata, begleitet eine Bewohnerin bei ihrem Spaziergang durch den Garten. Foto: Serata
ARTISET 09 I 2024 7 Im Fokus Der Bündner Standard, ursprünglich 2011 für Institutionen im Kinder- und Jugendbereich entwickelt, findet nun auch bei der Prävention von Gewalt und Grenzverletzungen im Altersbereich Anwendung. Erstmals wurde der Bündner Standard jetzt in einem Alters- und Pflegeheim eingeführt. Dominique Cerveny, Leiterin des Alters- und Pflegezentrums Serata in Zizers, erzählt von ihren Erfahrungen. Von Reka Schweighoffer* Im Alters- und Pflegezentrum Serata werden rund hundert pflegebedürftige Betagte und an Demenz erkrankte Menschen betreut. Das Pflegeheim liegt im idyllischen Zizers, eingerahmt von Bündner Bergen und mitten in einer gepflegten Gartenanlage. Es ist Teil der Stiftung «Gott hilft». Die Stiftung «Gott hilft» entwickelte 2011 den Bündner Standard für Institutionen des Kinder- und Jugendbereichs. Das Produkt wurde ein übersichtliches und anwendungsfreundliches Hilfsmittel, welches dabei unterstützt, Grenzverletzungen zu vermeiden oder professionell aufzuarbeiten. Vor fünf Jahren hat die Stiftung entschieden, dass sie eine zielgruppenunabhängige Version vom Bündner Standard erstellt, die auch in anderen sozialen Einrichtungen genutzt werden kann und online verfügbar ist. Bei einem Austausch innerhalb der Stiftung entwickelte sich bei Dominique Cerveny, der Institutionsleiterin des Alters- und Pflegeheims Serata, ein grosses Interesse daran, den Bündner Standard auch in ihrer Institution einzuführen. Auf den ersten Blick scheinen Pflege und Pädagogik zwei völlig unterschiedliche Arbeitsfelder zu sein. Wenn man jedoch genauer hinsieht, gibt es gemäss Dominique Cerveny viele Parallelen zwischen der Phase der Kindheit sowie Jugend und der letzten Lebensphase. Die grösste Gemeinsamkeit sei, dass es sich um Menschen handelt, die aus verschiedenen Gründen Unterstützung benötigen. Und überall dort, wo Menschen gemeinsam unterwegs sind, können herausfordernde Situationen entstehen. Besonders motivierte Dominique Cerveny an der Einführung des Bündner Standards, dass Gewalt und Grenzüberschreitungen Themen sind, die alle Mitarbeitenden betreffen. Im Alterszentrum Serata wurden bis anhin ausschliesslich Mitarbeitende aus der Pflege und Betreuung zum Umgang mit Gewalt geschult, während das Personal aus dem Service oder der Reinigung traditionell keine Schulung erhielt. Das sei schade, denn diese hätten genauso Kontakt mit den Bewohnenden. Es war also eine grosse Chance, dieses Pilotprojekt als gesamten Betrieb in Angriff zu nehmen. Dies, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemals ein Bericht über eine Grenzüberschreitung bei der Institutionsleiterin eingegangen ist. Ein erstes Verständnis entwickeln Im Frühling 2023 fand der Kick-off des Projekts «Bündner Standard» statt. In den Tüten auf den Sitzplätzen der Mitarbeitenden war das Popcorn für den Kick-off-Anlass mit Ras el Hanout gewürzt, einer traditionellen Gewürzmischung aus Nordafrika, die aus bis zu 30 verschiedenen Gewürzen besteht. Genauso reichhaltig wurde das Projekt Bündner Standard angekündigt. Weil der gesamte Betrieb mit dem Bündner Standard arbeiten würde, sollte jeder und jede Mitarbeitende seine eigenen Erfahrungen einbringen. So tauchte der ganze Betrieb entlang der zehn Kernelemente des Bündner Standards ins Thema ein und bekam ein erstes Verständnis für Grenzverletzungen und die dazugehörenden Facetten. Für die Begleitung der Einführung wurde ein interdisziplinäres, fünfköpfiges Prozessbegleitungsteam gebildet, das bereits Erfahrungen mit der Implementierung des Bündner Standards aus dem Kinder- und Jugendbereich mitbrachte. Gemeinsam wurde beschlossen, dass im ersten Projekthalbjahr DER BÜNDNER STANDARD Der Bündner Standard ist ein Instrument, das im Kinder und Jugendbereich entwickelt wurde, um Grenzverletzungen zu vermeiden oder professionell aufzuarbeiten. Die neue Version des Standards ist online verfügbar und kann auch für andere Institutionen genutzt werden, beispielsweise für Institutionen für Menschen mit Behinderung oder für Pflegeheime. Das Einstufungsraster, welches die Grenzverletzungen auf allen Beziehungsebenen definiert, lässt sich für jede Organisation individuell anpassen.
8 ARTISET 09 I 2024 STEFANIE SAGER www.keller-be atung.ch 056 483 05 10 5405 Baden-Dättwil Strategie Projekte Controlling Prozesse die Pflege gezielt auSriChten «Entdecken Sie unsere massgeschneiderte Pflegeberatung zur Optimierung von Organisations- und Arbeitsmodellen. Gerne berate ich Sie persönlich.» Ihre Spezialisten für Spital, Heim und Spitex Anzeige die Grundlagen erarbeitet werden, während im zweiten Halbjahr der Bündner Standard im Haus eingeführt und gefestigt wird. Das Prozessbegleitungsteam erklärte den Mitarbeitenden des Alters- und Pflegezentrums beim Kick-off-Event zudem sehr anschaulich, was der Bündner Standard kann und bezweckt. Besonders spannend war das Aufzeigen der unterschiedlichen Sphären des Miteinanders, in denen sich Personen im Pflegeheim bewegen: Für Mitarbeitende eines Pflegeheims ist ihr Arbeitsort eine öffentliche oder professionelle Sphäre, während es für die Bewohnenden ihr Zuhause ist, und sie sich somit in ihrer Privat- und Intimsphäre bewegen. Es kommt also rein deshalb schon zu Grenzverletzungen, weil sich Personen im Pflegeheim in unterschiedlichen Sphären mit unterschiedlichen Intentionen begegnen. Grenzüberschreitungen durch Bewohnende Intern wurde eine fünfköpfige Projektgruppe gegründet, in der Vertretende aller Arbeitsbereiche und unterschiedlicher Hierarchiestufen mitgemacht haben. Gemeinsam wurden vier Workshops für die Mitarbeitenden des «Serata» organisiert, in denen Situationen aus dem Alltag aufgearbeitet und diskutiert wurden. Die Mitarbeitenden begannen gemeinsam zu reflektieren, welche konflikthaften Situationen in letzter Zeit vorgefallen sind und wie sie in Zukunft besser damit umgehen könnten. Dabei sei aufgefallen, dass es nicht nur Grenzüberschreitungen von Seiten des Personals gebe, wie ungeduldige Bemerkungen, sondern es häufiger als erwartet auch zu grenzüberschreitendem Verhalten durch Bewohnende kommt. «Oft entsteht grenzverletzendes Verhalten auf Seiten der Bewohnenden durch ein nicht gestilltes Bedürfnis» so Cerveny. «Gerade bei Demenzpatienten, die sich nicht mehr gut verbalisieren können, kommt es häufiger zu aggressivem Verhalten gegenüber dem Personal. Aber dahinter steckt immer ein nicht gestilltes Bedürfnis oder das Nicht-Verstehen einer Situation.» Sensibilisierung für den Schweregrad Die Erarbeitung des Einstufungsrasters ist das Herzstück des Bündner Standards, ihm widmeten Dominique Cerveny und ihre Mitarbeitenden besonders viel Aufmerksamkeit. Im Raster wird die Einteilung von Grenzverletzungen in vier Stufen vorgenommen, von «Alltäglichen Situationen» über «Leichte Grenzverletzung» und «Schwere Grenzverletzung» bis hin zu «Massiven Grenzverletzungen». Zudem gibt es eine Einteilung in die verschiedenen Ebenen – also in die Ebene der Bewohnenden untereinander, Bewohnende gegenüber Mitarbeitende oder Mitarbeitende gegenüber Bewohnenden. Zu den jeweiligen Grenzverletzungen, etwa Beleidigung oder Diebstahl, gibt es im Raster Massnahmen. Während eines Monats hat das Pflegezentrum Beispiele zu grenzverletzendem Verhalten über alle Arbeitsbereiche hinweg gesammelt. «Wir haben für jeden Bereich eine Mappe mit dem Einstufungsraster und Merkblättern gemacht, damit die Mitarbeitenden nachschlagen können. Uns war besonders wichtig, die Handlungen ganz präzise zu benennen und auszuformulieren. Ausserdem haben wir uns zusammen überlegt, was tolerierbare und nicht tolerierbare Handlungen sind. Was darf man bei uns, was gehört zum Pflegeauftrag, was darf man nicht. So sind rund 40 Beispiele entstanden», so Cerveny. «Das Thema Grenzüberschreitungen haben wir erfolgreich aus der Tabu Ecke geholt, und es gehört nun zum Alltag, grenzverletzendes Verhalten zu benennen.» Dominique Cerveny. Institutionsleiterin Im Fokus
ARTISET 09 I 2024 9 ‣ Gesundheit Weiterbildung an der BFH CAS Demenz und Lebensgestaltung | Start: November 2024 CAS Eigenweltorientierte Kommunikation Demenz Start: April 2025 Fachkurs Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Lebenswelt älterer Menschen | Start: Januar 2025 Kurs Diagnostik und Management Schwindel | Start: Januar 2025 Kurs Unerfüllter Kinderwunsch – ganzheitlich betreut und begleitet | Start: Februar 2025 bfh.ch/gesundheit/weiterbildung 09_WB_INA_PFL.indd 1 13.08.2024 11:41:52 Anzeige Diese Beispiele wurden gemeinsam mit den besprochenen Massnahmen ins Einstufungsraster eingetragen und auf den Stationen und den Arbeitsbereichen hinterlegt. Eine Meldestelle für Mitarbeitende Seit November 2023 arbeitet die ganze Institution mit dem neuen Instrument. In jedem Arbeitsbereich gibt es nun eine grüne Mappe mit den erarbeiteten Dokumenten, unter anderem mit dem Einstufungsraster und Merkblättern. Wöchentlich findet im Team ein Austausch statt, und monatlich gibt es Rapporte, um sich über grenzverletzende Erfahrungen auszutauschen. Hilfreich sei zudem die Einrichtung einer unabhängigen, internen Meldestelle für die Mitarbeitende – in Pflegezentrum Serata handelt es sich hierbei um eine Fachperson Aktivierung. Dieses Angebot empfindet Dominique Cerveny als unbedingt nötig, da sich die Mitarbeitenden so auch im geschütztem Rahmen Unterstützung bei heiklen Themen holen können. «Das Thema Grenzüberschreitungen haben wir erfolgreich aus der Tabu-Ecke geholt, und es gehört nun zum Alltag, grenzverletzendes Verhalten zu benennen», meint Dominique Cerveny. Dabei helfe insbesondere die gemeinsam entwickelte Sprache. Viele Mitarbeitende seien nun sensibilisiert und viel eher dazu bereit, sich im Team Unterstützung zu holen – auch zum Zweck des Selbstschutzes. Dank den Kommunikationsgefässen wie dem Rapport und den Teammeetings hat man nun auch Zeit und das Bewusstsein, brenzlige Situationen aufzuarbeiten: Eine Bewohnerin wehrte sich zum Beispiel am Morgen vehement gegen die Körperpflege und wurde verbal ausfällig. Dies wurde bis anhin zur Kenntnis genommen und es kostete alle Beteiligten viel Energie, die Bewohnerin doch zur Körperpflege zu bewegen. Im Rahmen des Bündner Standards wurde diese Situation evaluiert und festgestellt, dass die Bewohnerin sich früher immer abends geduscht hat. Die Körperpflege wurde deshalb auf den Abend gelegt und funktionierte ab dann ohne Auseinandersetzungen. Ohne den Bündner Standard Rapport hätte es womöglich länger gedauert, diese und andere Situation anzusprechen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Ein besonderes Augenmerk liegt nun auch darauf, schnell zu handeln, wenn vermeintlich leichte Grenzverletzungen – wie abwertende Bemerkungen oder Drohungen – zeitlich gehäuft auftreten. Eine Kultur des Hin- und Nicht-Wegschauens «Bereichsübergreifend ein thematisches Projekt zu realisieren, ist zwar bereichernd, aber immer auch eine Herausforderung. Die Denkart ist in den Arbeitsbereichen unterschiedlich, der Umgang mit dem Dokumentieren ist ebenfalls herausfordernd, da es nicht in allen Bereichen eigens dafür ausgelegte Systeme gibt. Da sind wir noch am Tüfteln», sagt Dominique Cerveny. Die Herausforderung sei, alle Mitarbeitenden im Boot zu haben. Dass das Alters- und Pflegezentrum Serata den Bündner Standard mit eigenen Beispielen selbst erarbeitet hat, habe geholfen, die Mitarbeitenden für das Projekt zu begeistern. «Wenn man beteiligt ist, fühlt man sich automatisch auch als Teil davon.» Neu werden im Rahmen des Projektes weitere Themen bearbeitet, zum Beispiel die Einbindung der Nachtwachen sowie die Erweiterung auf grenzüberschreitendes Verhalten unter Mitarbeitenden. «Wir haben vor und nach der Einführung des Bündner Standards eine Evaluation gemacht, und auf dem Papier haben die Fälle von Grenzüberschreitung seit letztem Jahr exponentiell zugenommen. Also ist es gefährlicher bei uns geworden?», fragt Cerveny mit einem Augenzwinkern. «Nein, natürlich nicht! Wir haben unterdessen eine Kultur des Hinsehens entwickelt und sind jetzt mit dem Thema professionell und selbstbewusst unterwegs.» * Reka Schweighoffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Branchenverbands Curaviva. Ein Video zur Einführung des Bündner Standards im Pflegezentrum Serata
10 ARTISET 09 I 2024 Im Fokus Wie vor einigen Jahren im Bereich Alter gewinnen Grenzverletzungen jetzt auch bei Menschen mit Behinderungen vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren hat Mitte Juni 2024 ein «Positionspapier» genehmigt, in dem die Kantone sich unter anderem dazu bekennen, den Schutz vor Gewalt in stationären Angeboten auszubauen. Von Elisabeth Seifert Kantone sehen Handlungsbedarf Seit einiger Zeit wächst das Bewusstsein dafür, dass Menschen im höheren und hohen Alter vermehrt von Gewalt betroffen sind, von psychischem oder physischem Machtmissbrauch unterschiedlicher Art. Solche Grenzverletzungen sind die Folge der Fragilität von Menschen, die sie abhängig macht von ihrem Umfeld, von Angehörigen, aber auch von Fachpersonen im ambulanten und stationären Bereich. Ein wichtiger Treiber für die Sensibilisierung war vor rund vier Jahren der Bericht des Bundesrates, «Gewalt im Alter verhindern», der als Antwort auf ein parlamentarisches Postulat publiziert worden war. Der Bericht machte erstmals bekannt, dass Jahr für Jahr in der Schweiz zwischen 300 000 und 500 000 Menschen im Alter ab 60 Jahren Grenzverletzungen erdulden müssen, wobei nur ein kleiner Teil davon bekannt wird. Um die Öffentlichkeit zu informieren sowie Gewaltopfer zu unterstützen und ihr Umfeld zu beraten, ist vor zwei Jahren etwa das nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt gegründet worden. Damit haben sich drei in den verschiedenen Sprachregionen tätige Organisationen ein gemeinsames Dach gegeben, um ihre Aufklärungsarbeit voranzutreiben. Während im Altersbereich die Sensibilisierung für die Gewaltthematik langsam wächst, ist dies bei Menschen mit Behinderung – noch – weniger der Fall. Auch hier dürfte jetzt ein Bericht des Bundesrates ein wichtiger Motor sein: Im Juni letztes Jahr erfüllte der Bundesrat mit seinem Bericht zur Gewalt an Menschen mit Behinderungen in der Schweiz ein vom Parlament überwiesenes Postulat der Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth. Es gibt keine verlässliche Datengrundlage Da für die Schweiz kaum verlässliche Daten vorliegen, enthält der Bericht im Unterschied zur Gewaltthematik im Alter keine konkreten Zahlen. Studien
ARTISET 09 I 2024 11 aus den Nachbarstaaten würden indes zeigen, so der Bundesrat, «dass Frauen und Männer mit Behinderungen überdurchschnittlich stark von physischer, psychischer und sexueller Gewalt betroffen sind». Die Problematik werde dabei durch strukturelle Faktoren wie Benachteiligungen bei der Wohn- und Arbeitssituation sowie dem eingeschränkten Zugang zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten verstärkt. Ein besonders hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, hätten Menschen, «die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, von der Unterstützung Dritter abhängig oder von kommunikativen Einschränkungen betroffen sind». Aufgrund dieser Einschätzungen formuliert der Bundesrat eine Reihe von Massnahmen, die sich an die Bundesverwaltung richten. Zudem adressiert der Bund Empfehlungen an Kantone, in deren Zuständigkeit insbesondere die Bewilligung und die Aufsicht der Behinderteneinrichtungen fallen. Im Vordergrund stehen hier denn auch Empfehlungen, die kantonalen Massnahmen zum Schutz vor Gewalt in stationären Angeboten zu harmonisieren und auszubauen. Weitere Empfehlungen betreffen die Sicherstellung der Zugänglichkeit von Beratungs- und Schutzangeboten sowie die Förderung der Weiterbildung und Vernetzung der Fachpersonen. Unterschiede beim Schutz vor Gewalt Mitte Juni 2024 hat die Plenarversammlung der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) ein «Positionspapier» genehmigt, das den im bundesrätlichen Bericht umrissenen Handlungsbedarf anerkennt, im Detail prüft und Massnahmen vorschlägt. Erarbeitet worden ist das Positionspapier seit Juni 2023 unter der Leitung der SODK von verschiedenen Gremien aus dem Bereich Behinderung; unter anderem mittels Umfragen bei sämtlichen Kantonen und Diskussionen mit Vertretenden kantonaler Behindertenabteilungen aus allen Regionen der Schweiz. Ein grosser Teil der Kantone verlangt gemäss der SODK-Bestandesaufnahme im Rahmen des Bewilligungsverfahrens von stationären Einrichtungen Instrumente zum Schutz vor Gewalt und Übergriffen. Die Auswertung der Befragungen zeige jedoch, «dass eine grosse Heterogenität bezüglich dieser Instrumente besteht», heisst es im Positionspapier. Am häufigsten verlangt würden Konzepte für die Prävention und zum Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen. Weiter zeigt die Bestandesaufnahme, dass nur etwa die Hälfte der Kantone von den Institutionen die Einrichtung einer internen Meldestelle verlangt, an die sich gewaltbetroffene Personen wenden können. Der Kanton Zug hat die Aufsicht komplett umgekrempelt Um die Empfehlungen des Bundesrats umzusetzen, macht das Positionspapier den Vorschlag, eine Arbeitsgruppe mit Vertretenden von Kantonen aus allen Regionen der Schweiz einzusetzen. Diese soll Beispiele guter Praxis aus den Kantonen zusammengetragen und allen zur Verfügung stellen. Viele Kantone beschäftigen sich schon länger mit dem Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung, unterstreicht Anita Müller-Rüegg, Co-Leiterin der Abteilung Behinderung und Betreuungsleistungen im Kanton Zug. Gemeinsam mit anderen Kantonsvertretenden war sie an der Erarbeitung des Positionspapiers beteiligt. Innerhalb der Institutionen gehe es ganz besonders darum, so Müller, Mitarbeitende für die subtilen Formen von Gewalt zu sensibilisieren. Aus solchen Gründen plädiere die SODK etwa dafür, beim Thema Gewalt immer auch den Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen mitzudenken. Müller: «Freiheitsbeschränkende Massnahmen sind immer auch Gewalt, man muss diese deshalb sehr sorgfältig anwenden.» Mit dem neuen, Anfang Jahr in Kraft getretenen Gesetz über Leistungen für Menschen mit Behinderung und Betreuungsbedarf hat der Kanton Zug unter anderem klar definiert, über welche Instrumente die Institutionen zum Schutz vor Gewalt verfügen müssen. Dazu gehören verschiedene Konzepte und auch die Verpflichtung zur Einführung einer internen Meldestelle. Um eine Verbesserung der Qualität zu erreichen, gerade auch bei einem solch sensiblen Thema wie Gewalt und Grenzverletzungen, dürfe man es aber nicht mit solchen Regelungen bewenden «Aufgrund der nationalen Diskussionen haben wir bei unseren Aufsichtsbesuchen derzeit das Thema Gewalt gewählt. Wir überprüfen zum Beispiel, welche Gewaltvorfälle dokumentiert worden sind und wie man darauf reagiert hat.» Anita Müller-Rüegg, Kanton Zug
Die Solidaritätsstiftung des SRF Jetzt spenden mit TWINT! Kitzelsandferien habe ich so gern. Dank Ihrer Spende erhalten Menschen mit Behinderungen einen chancengleichen Zugang zu Ferien und Freizeitaktivitäten. Jetzt spenden. denkanmich.ch IBAN CH44 0077 0254 8509 0200 1 svg-trophy.ch Der Wettbewerb für die Spital-, Heim-, Gemeinschafts- und Systemgastronomie IST IHR TEAM DAS BESTE DER BRANCHE? Jetzt anmelden! Bis 21.11.2024 SVG-Trophy-2025_quer_V01.indd 4 20.08.24 12:56
ARTISET 09 I 2024 13 belassen, ist Anita Müller überzeugt. Der Kanton Zug habe deshalb bereits im Jahr 2019 die Aufsicht über die Institutionen komplett umgekrempelt: Alle vier Jahre an jeweils ein bis vier Halbtagen statten Vertretende der kantonalen Abteilung für Behinderung den Institutionen einen Besuch ab. «Bei diesen Besuchen reden wir nicht nur mit der Heimleitung, sondern auch mit Mitarbeitenden und den Menschen mit Behinderung.» Bei jedem Besuchszyklus steht ein anderes Schwerpunktthema im Zentrum. «Aufgrund der nationalen Diskussionen haben wir jetzt das Thema Gewalt gewählt.» Dabei werde zum Beispiel überprüft, welche Gewaltvorfälle dokumentiert worden sind und wie man darauf reagiert hat. Es gehe auch darum, herauszufinden, ob die Mitarbeitenden die Konzepte kennen. «Bei den Dienstleistungsnutzenden, also den Bewohnenden, interessiert es uns, ob sie darüber Bescheid wissen, was sie unternehmen können, wenn sie ein ungutes Gefühl haben.» Viele Institutionen mussten sich an die neue Form der Aufsicht erst gewöhnen. «In der Zwischenzeit hat es sich eingespielt, und wir erhalten auch positive Rückmeldungen», beobachtet Anita Müller. Besonders gut an kommen die Besuche bei den Menschen mit Behinderung: «Sie freuen sich darüber, dass der Kanton mit ihnen spricht und sie anhört.» Der Kanton Luzern lässt seine Konzepte überprüfen Wie der Kanton Zug statten auch die kantonalen Behörden im Kanton Luzern den Behinderteninstitutionen in regelmässigen Abständen einen Besuch ab. «Wir prüfen dabei, ob Konzepte bestehen und wie diese, gerade auch im Bereich Gewaltprävention und Krisenintervention, im Alltag umgesetzt werden und ob interne Schulungen durchgeführt werden», sagt Heidi Schwander, Abteilungsleiterin Behinderung und Betreuung; auch sie hat bei der Erarbeitung des Positionspapiers mitgewirkt. «Wir versuchen bei unseren Aufsichtsbesuchen mit den Dienstleistungsnutzenden in einen direkten Dialog zu treten.» Luzern habe ein ähnliches Aufsichtskonzept wie der Kanton Zug, so Schwander. Sie schätzt den Austausch unter den Kantonen, in der Zentralschweiz und innerhalb der SODK-Arbeitsgruppen. «Es muss nicht jeder Kanton das Rad neu erfinden, sondern man kann sich an gut funktionierenden Instrumenten anderer Kantone orientieren.» Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über Gewalt und da die entsprechenden kantonalen Wegleitungen in die Jahre gekommen sind, sind die Verantwortlichen im Kanton Luzern derzeit damit beschäftigt, diese im Hinblick auf mögliche Anpassungen zu überprüfen. Es bestehen derzeit keine detaillierten Vorgaben. So kennt Luzern etwa keine Verpflichtung, eine interne Meldestelle zu führen. Rund die Hälfte der Institutionen verfügt dennoch über eine solche. «Institutionen, die eine Meldestelle haben und auch die entsprechenden Weiterbildungen anbieten, sind für die Thematik besser sensibilisiert», beobachtet Schwander. Seit 2023 müssen die Institutionen im Kanton Luzern im Rahmen des jährlichen Qualitätsreporting die Anzahl und die Art freiheitsbeschränkender Massnahmen rapportieren. «Solche Massnahmen sind Ausdruck struktureller Gewalt und brauchen deshalb eine besondere Aufmerksamkeit.» Schon allein die Definition freiheitsbeschränkender Massnahmen sei sehr anspruchsvoll. «Mit der Verpflichtung, diese Massnahmen zu rapportieren, haben wir eine allgemeine Diskussion rund um das Thema Gewalt lanciert.» Solche Diskussionen ermöglichen es, eine gemeinsame Haltung zum Thema zu fördern, betont Schwander, «und uns darüber klar zu werden, was alles unter Gewalt zu verstehen ist». Sensibilisierung des Umfelds und der Gesellschaft Heidi Schwander und Anita Müller betonen beide, dass die Diskussion rund um Gewalt an Menschen mit Behinderung breit geführt werden muss. In der Pflicht stehe hier ganz besonders der Bund. «Wir brauchen eine öffentliche Sensibilisierungs- und Informationskampagne», fordert Anita Müller. «Menschen mit Behinderung erfahren im öffentlichen Raum immer wieder Grenzverletzungen unterschiedlicher Art». Sensibilisierungsarbeit braucht es auch bei den Angehörigen. Und auch Menschen mit Behinderungen müssen wissen, dass sie sich äussern dürfen, wenn sie sich in und mit einer Situation unwohl fühlen. Heidi Schwander plädiert dafür, die breite – alle Teile der Gesellschaft einschliessende – Sensibilisierungsarbeit im Bereich Alter auch für Menschen mit Behinderung zu nutzen. «Wir dürfen nicht in Alterskategorien oder Wohnformen denken, sondern entlang den Bedürfnissen, und diese sind bei Menschen im Alter und bei Menschen mit Behinderung sehr ähnlich.» «Mit der Verpflichtung, freiheitsbeschränkende Massnahmen zu rapportieren, haben wir eine allgemeine Diskussion rund um das Thema Gewalt lanciert.» Heidi Schwander, Kanton Luzern Im Fokus
14 ARTISET 09 I 2024 Grenzverletzungen können auf und zwischen allen Ebenen einer Organisation und darüber hinaus stattfinden: unter Menschen mit Unterstützungsbedarf, in der Beziehung zwischen Menschen mit Unterstützungsbedarf und Fachpersonen, in der Beziehung zu Angehörigen und dem weiteren sozialen Umfeld, unter Fachpersonen sowie mit über- oder untergeordneten Stellen oder Organen. Grenzverletzungen können sehr subtil sein – etwa in Form von manipulativer Kommunikation – oder offensichtlich (Grund-)Rechte verletzen. Der neue Artiset-Leitfaden «Konzept zum Umgang mit Macht, Grenzverletzungen und Gewalt» zielt darauf ab, die psychische und körperliche Integrität aller Beteiligten zu schützen. Dies gelingt am besten mit einer Kultur, die es ermöglicht, Grenzverletzungen zu erkennen und offen anzusprechen. So können Ursachen von Problemen verstanden und angemessene Massnahmen ergriffen werden. Leitfaden zur Gewaltprävention Artiset hat einen Leitfaden zum Umgang mit Macht, Grenzverletzungen und Gewalt entwickelt. Er hilft Institutionen dabei, ein eigenes Konzept zur Vermeidung und Bewältigung von Grenzverletzungen zu erstellen. Von Verena Baumgartner* ARTISET-LEITFADEN UND WEBSITE LEITFRAGEN Die Leitfragen dienen dazu, die Organisation bei der Vertiefung und Reflexion der jeweiligen Kategorien zu unterstützen. Sie helfen, die bestehenden Prozesse und Strukturen kritisch zu hinterfragen, und bieten Anregungen für die Weiterentwicklung. MASSNAHMEN Die Massnahmen bieten konkrete Handlungsempfehlungen. Sie zeigen auf, welche Schritte unternommen werden können, um Prävention, Intervention und Nachsorge zu stärken. Der Artiset-Leitfaden berücksichtigt bestehende Instrumente wie beispielsweise den Bündner Standard. Er führt systematisch anhand eines Wabenmodells durch die Präventionslandschaft und hilft, die relevanten Strukturen, Prozesse und Massnahmen zu identifizieren und umzusetzen. Dabei wird zwischen den drei Bereichen Prävention (Vorsorge), Intervention und Nachsorge unterschieden. * Verena Baumgartner ist Koordinatorin für Übergreifende Fachthemen bei Artiset. Der Leitfaden wurde von der Andrea Gehrig GmbH im Auftrag von Artiset entwickelt. Die verschiedenen Aspekte im Leitfaden werden begleitet von Leitfragen, Massnahmen, TopTipps und weiterführenden Informationen:
ARTISET 09 I 2024 15 Im Fokus TOPTIPPS TopTipps sind aus der Praxiserfahrung abgeleitete Empfehlungen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN Dieses Feld verlinkt weiterführende Informationen, die der Organisation helfen, sich tiefer in die Thematik einzuarbeiten. 1Was verhindert oder beugt dem Auftreten von Machtmissbrauch und Gewalt vor? ■ Grundhaltungen und Werte: Sie schaffen eine wertebasierte Kultur des Respekts und der Achtsamkeit, die sensibilisiert und vorbildliches Verhalten fördert. ■ Kenntnisse und Wissen: Durch gezielte Schulungen können sowohl Menschen mit Unterstützungsbedarf als auch Menschen in Verantwortung ihr Wissen und Verständnis für Machtdynamiken, Grenzverletzungen und Gewalt vertiefen. Diese Kenntnisse schärfen das Bewusstsein, bieten klare Handlungsrichtlinien sowie rechtliche Orientierung und fördern das Empowerment aller Beteiligten. ■ Strukturen und Gefässe: Sie bieten Möglichkeiten zur Besprechung von Macht, Machtmissbrauch, Grenzverletzungen und Gewalt. Sie sorgen für Transparenz und stellen sicher, dass angemessene Massnahmen ergriffen werden. 2 Wie reagieren auf Vorfälle in der akuten Situation und unmittelbar darauf? ■ Deeskalation in der akuten Situation ■ Ereignisbearbeitung ■ Meldewesen 3 Wie können die angemessene langfristige Begleitung von beteiligten und betroffenen Personen und der kontinuierliche Lernprozess gestaltet werden? ■ Nachsorgeprogramme für beteiligte (direkt involvierte) und betroffene (indirekt involvierte) Personen ■ Dokumentation von Vorfällen ■ Systematische Analyse von Vorfällen (Datenauswertung) und die dazugehörige Reflexion. PRÄVENTION Kenntnisse und Wissen Strukturen und Gefässe Grundhaltung und Werte Ereignisbearbeitung Dokumentation von Vorfällen Meldewesen Analyse, Datenauswertung und Reflexionsprozesse Deeskalation Nachsorgeprogramme INTERVENTION GEWALTPRÄVENTION NACHSORGE 1. 2. 3. Vorbeugende Massnahmen Reaktive Massnahmen bei einem Vorfall Längerfristige Massnahmen und kontinuierlicher Lernprozess
16 ARTISET 09 I 2024 Im Fokus Die Stimme der Bewohnenden findet Gehör Frédéric Lüscher, genannt Freddy, an der Bar des künftigen Kiosks «La Pinte à Didi», einem Ort der wöchentlichen Begegnung. Hier können die Bewohnenden auch Madame und Monsieur SOS treffen. Foto: amn
ARTISET 09 I 2024 17 Im «Le Foyer» in Lausanne, einem Kompetenzzentrum für Sehbehinderungen, gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientraitance und das Tandem Madame und Monsieur SOS. Mithilfe des Dispositivs «Prävention von Misshandlung – Förderung von Bientraitance», das 2016 offiziell eingeführt wurde, soll die Stimme der Bewohnerinnen und Bewohner bei internen Beschlussfassungen des Heims mehr Gehör finden. Von Anne-Marie Nicole An der Route d’Oron 90 oberhalb von Lausanne ist das alte Gebäude, das über ein Jahrhundert den Verein Le Foyer beherbergt hatte, einem Neubau gewichen. Der Verein wurde 1900 auf Initiative einer Waadtländer Primarschullehrerin gegründet. Sie wollte dem Mangel an Plätzen für blinde oder sehbehinderte Kinder mit geistiger Beeinträchtigung entgegenwirken. Heute ist «Le Foyer» ein anerkanntes Kompetenzzentrum für Sehbehinderungen. Ungefähr hundert Erwachsene leben in Wohngruppen und arbeiten in Werkstätten. Seit rund 15 Jahren gibt es auch mehrere spezielle Angebote für etwa 30 Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Die Eingangstür des neuen Gebäudes führt in eine grosse, lichtdurchflutete Halle, die auf beiden Seiten in breite Gänge übergeht. Gegenüber geben Panoramafenster den Blick auf eine Terrasse und einen Park frei, in dem sich drei kleine Gebäude befinden. Sie wurden einige Jahre zuvor errichtet und beherbergen Wohngruppen und Tageszentren. Das Hauptgebäude umfasst eine Rezeption, Verwaltungsräume, Werkstätten, ein Geschäft, ein Restaurant, vier Wohnbereiche und einen Mehrzweckraum. Im Erdgeschoss hängt noch der Geruch von frischer Farbe in der Luft. Das Ockerrot einer Wand kontrastiert mit dem makellosen Weiss des restlichen Raums. Bisher gibt es noch keine Beschilderung, sieht man von den Handläufen aus hellem Holz ab, die als Wegweiser dienen. Nur ein kleiner Sessel und ein Aufsteller mit ein paar Broschüren nehmen eine Ecke der Eingangshalle nicht weit von der Rezeption ein. «Wir sind erst vor ein paar Wochen eingezogen und brauchen noch Zeit, um die zahlreichen Details endgültig zu gestalten», erläutert Marie-Anne Cristuib, Heilpädagogin, Bereichsleiterin und Koordinatorin des Dispositivs «Prävention von Misshandlung – Förderung von Bientraitance». Die Einweihung des Gebäudes ist für Mitte September geplant. «La Pinte à Didi» Im Untergeschoss ist Frédéric Lüscher, genannt Freddy, ungeduldig. Er inspiziert den Inhalt der Schränke und des Kühlschranks, wo bald «La Pinte à Didi» eröffnet wird: ein Kiosk, dessen Name auf die phonetische Endung von Freddy und seinem Kollegen Hansruedi anspielt. Die beiden sind für diesen künftigen Ort der Begegnung und Gemeinschaft verantwortlich. Freddy – ein Mann in den Siebzigern – kam mit 19 Jahren ins «Le Foyer». Vorher war er seit seiner frühesten Kindheit in anderen Heimen, «als Ohrfeigen und Anbrüllen noch kaum jemanden schockierten», erzählt er. Hansruedi hingegen, 94, wohnt schon seit 1941 im «Le Foyer»! Die beiden Heimbewohner leiten nicht nur den Kiosk, sondern gehören auch der Kommission Bientraitance an. Im Verein Le Foyer machte man sich bereits zu Beginn der 2000er-Jahre über das Thema Misshandlung Gedanken. Damals erliess der Kanton Waadt Gesetze zu freiheitseinschränkenden Massnahmen bei Menschen mit Behinderung: Zuvor war es in Waadtländer Heimen zu Misshandlungen
18 ARTISET 09 I 2024 gekommen, die damals für Schlagzeilen sorgten. «Le Foyer» setzte die verschiedenen Massnahmen zur Prävention von Misshandlung und Förderung von Bientraitance (frei übersetzt: «gute Behandlung») ab 2006 um. Das Dispositiv «Bientraitance» wurde jedoch erst 2016 offiziell dokumentiert und im Qualitätssystem des Vereins verankert. Diese Dokumentation führt die Grundprinzipien auf und beschreibt die Möglichkeiten zur Meldung von Misshandlungssituationen sowie die drohenden Folgen. Sie enthält auch eine Definition von Misshandlung, die vom Europarat übernommen wurde. Dazu gehören freiwillige oder unfreiwillige Handlungen sowie körperlicher und sexueller Missbrauch, psychologische Schäden, finanzieller Missbrauch, Vernachlässigung sowie materielle oder emotionale Vernachlässigung. «Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung», präzisiert Marie-Anne Cristuib und nennt als Beispiel unangemessenes Verhalten von Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem Respekt beruht: Bewohnende ohne deren Zustimmung duzen, ihnen Spitznamen geben, ein Päckchen anstelle der Person öffnen, an die es adressiert ist, oder draussen in Anwesenheit von Bewohnerinnen und Bewohnern rauchen, ohne sich «Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung, zum Beispiel unangemessenes Verhalten von Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem Respekt beruht.» Marie-Anne Cristuib, Koordinatorin des Dispositivs «Bientraitance» Gedanken darüber zu machen, ob es sie stört. «Diese Verhaltensweisen sind per se nicht schlimm. Aber sie sind Machtmissbrauch und mangelnde Rücksichtnahme, die gemeldet und angegangen werden müssen.» Monsieur und Madame SOS Im «Le Foyer» gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientraitance und die Meldestelle in Form von Madame und Monsieur SOS. Das SOS-Tandem, eine Funktion, die von Fachkräften aus dem «Le Foyer» übernommen wird, ist die Exekutive in diesem Dispositiv. Es behandelt Beschwerden – sei es von Heimbewohnenden, die sich misshandelt fühlen oder misshandelt wurden, oder von Mitarbeitenden, die ihnen zufolge von Bewohnenden misshandelt wurden. Bei der Einführung dieses Dispositivs gab es noch zahlreiche Beschwerden. Mittlerweile jedoch bearbeiten die beiden nur noch eine Handvoll jährlich, berichtet Marie-Anne Cristuib. Auch sie war Madame SOS, bevor sie die Leitung des gesamten Dispositivs übernahm. Einmal wöchentlich ist das SOS-Tandem am Kiosk und steht den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung. Die gemeldeten Situationen beziehen sich im Allgemeinen auf Unzufriedenheit mit dem Heimalltag, eine wenig respektvolle Haltung oder Sorgen hinsichtlich ihrer Rechte. Je nach Art und Schweregrad des Falls sucht das Tandem direkt im Gespräch mit den betroffenen Personen eine Lösung durch Mediation oder Wiedergutmachung. Bei komplexen Situationen und nachgewiesener Misshandlung melden Madame und Monsieur SOS den Fall den Verantwortlichen, um den Übergriffen ein Ende zu setzen und wieder für ein gutes Zusammenleben zu sorgen. Bewohnenden, die sich sprachlich nicht verständigen und nicht eigenständig an Madame und Monsieur SOS wenden können, stehen demnächst Botschafterinnen und Botschafter der «Bientraitance» zur Verfügung. Das Herz des Dispositivs «Bientraitance» Die Kommission Bientraitance mit ihren zehn Selbstvertretenden bildet die Legislative. «Es ist das Herz des Dispositivs», fasst Marie-Anne Cristuib zusammen, die die wenigen jährlichen Sitzungen der Kommission leitet. Diese Instanz spielt in der Tat eine zentrale Rolle: Sie bearbeitet Themen im Zusammenhang mit der Prävention von Misshandlung und Förderung von «Bientraitance», um die Rücksichtnahme auf die Bewohnerinnen und Bewohner sowie gute berufliche Praktiken zu fördern. Sie wählt Madame und Monsieur SOS, unterstützt sie und bewertet deren Arbeit. Sie validiert Änderungen von Texten oder Verfahren des Dispositivs. Vor allem leiten die Mitglieder der Kommission Beschwerden oder Vorschläge der Bewohner weiter und weisen das SOS-Tandem auf persönliche Situationen oder Situationen in der Einrichtung hin, die sie als misshandelnd empfinden. Frédéric Lüscher ist seit der Gründung 2010 Mitglied der Kommission Bientraitance. Er ist ein besonnener, aufmerksamer Im Fokus
Wir liefern eine Antwort! Werde aktiv auf amnesty.ch TODES STRAFE GEFÄNGNIS VERANTWORTUNG TORTUR ZWANG POLITISCHE GEFANGENE MENSCHENRECHTS VERLETZUNGEN FOLTER POLITISCHER MORDGRENZEN KINDERSOLDATEN FRAUENRECHTE MIGRATION WILLKÜR SKLAVEREI SCHICKSAL VERFOLGUNG FLÜCHTLINGE MISSBRAUCH ELEND KRIEG VERGEWALTIGUNG PRIVATSPHÄRE ASYL VERBRECHEN und entgegenkommender Mann, dem viel am guten Zusammenleben und gegenseitigen Verständnis liegt. Er mag Menschen und setzt sich entschieden für sie ein. Er beobachtet und hat stets ein Ohr für seine Mitbewohnenden. Schwere Misshandlung hat er noch nie erlebt. «Ich bin vor allem da, um zu sensibilisieren und die Wogen zu glätten», meint er. Er berichtet auch von zwei Massnahmen der Kommission, die zeigen, wie sehr «Bientraitance» oder fehlende «Bientraitance» manchmal eine Frage der Sensibilität ist, die nicht unterschätzt werden darf. Die erste betrifft eine Umbenennung: Die Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich als Erwachsene, die keine Erziehung mehr benötigen. Daher haben sie darum gebeten, dass die Erzieherinnen und Erzieher künftig Begleiterinnen und Begleiter genannt werden. Die zweite Massnahme bezieht sich auf die Einführung eines schriftlichen Verfahrens zur Handhabung beruflicher Anrufe, die das Personal während der Mahlzeiten entgegennimmt – aus Rücksicht gegenüber den Bewohnenden. Ein Machtwechsel Mit Freude stellt Frédéric Lüscher fest, dass die Bewohnenden seit der Einführung des Dispositivs «Bientraitance» mehr Gehör finden und bei Beschlussfassungen stärker berücksichtigt werden. Marie-Anne Cristuib spricht ohne Zögern von einem Machtwechsel. «Die Institutionalisierung als solche ist eine Quelle der Misshandlung. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich die Personen, mit denen sie zusammenleben, nicht ausgesucht. Daher ist es wichtig, dass sie frei ihre Ablehnung äussern können, sagen, was ihnen nicht passt, und ihre Erwartungen vorbringen können.» In ihren Augen erfolgt «Bientraitance» auch dadurch, dass die Lebensgewohnheiten der einzelnen Menschen entsprechend dem Modell der menschlichen Entwicklung – Entstehungsprozess Behinderung (MDH-PPH), das die Einrichtung übernommen hat, respektiert werden. Das Ganze ist umso schwieriger, als die nicht immer miteinander kompatiblen Lebensgewohnheiten der beiden im «Le Foyer» lebenden Personengruppen miteinander vereinbart werden müssen. «Manche Gewohnheiten sind atypisch», erklärt Marie-Anne Cristuib. «Personen mit ASS äussern ihre Freude durchaus auch durch Schreie. Diese Schreie können jedoch Ängste und gewaltsame Reaktionen bei blinden und sehbehinderten Menschen mit geistiger Beeinträchtigung hervorrufen.» Es ist also viel Informations- und Sensibilisierungsarbeit erforderlich, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und Krisen und komplexe Situationen zu verhindern. Aber die Koordinatorin des Dispositivs «Bientraitance» zeigt sich optimistisch. Eines Tages kam ein Bewohner zu ihr und sagte: «Wenn Sie nichts unternehmen, werde ich ihn schlagen.» Er bezog sich dabei auf jemanden aus dem ASS-Sektor, dessen Schreie er nicht mehr ertrug. «Das Bewusstsein, dass er das Recht hat, uns zu sagen, dass das nicht mehr geht – dass er kein Opfer ist, sondern durchaus Aggressor werden könnte: Das ist ein gutes Beispiel für den Erfolg unseres Dispositivs «Bientraitance».
20 ARTISET 09 I 2024 Im Fokus Die Freiburger Stiftung Fara (Fondation Ateliers Résidences Adultes) für Menschen mit Behinderungen will mit «Bientraitance» Grenzverletzungen von Dienstleistungsnutzenden und Mitarbeitenden begegnen. Zudem soll, so Geschäftsführer Blaise Curtenaz, die geplante Einführung des Bündner Standards zur Sensibilisierung und Prävention beitragen. Interview: Anne Marie Nicole «Transparenz und Gesprächskultur stärken» Herr Curtenaz, Sie beabsichtigen, in Ihrer Institution den Bündner Standard zu implementieren. Warum? Wir haben das Instrument in seinen Grundzügen an einem Impulstag kennengelernt. Wir glauben, dass es uns als Leitfaden dienen könnte, um einen besseren Umgang mit grenzverletzendem Verhalten zu entwickeln und vermehrt im Vorfeld aktiv zu werden – in der Prävention, der Sensibilisierung und der Transparenz. Studien zeigen, dass Fachkräfte manchmal Mühe bekunden, subtile Formen von Misshandlung oder Missbrauch zu erkennen. Haben Sie innerhalb der Institution ein gemeinsames Verständnis entwickelt? Genau genommen haben wir keine Definition von Misshandlung und ihren verschiedenen Formen – zumindest noch nicht. Unsere Grundlagendokumente verlangen die Wahrung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit, und unsere institutionellen Werte beruhen auf gegenseitigem Respekt, dem persönlichen Wohlbefinden, einem harmonischen Zusammenleben und der Nulltoleranz gegenüber Gewalt. Unser Ziel ist es, dass unser Personal niemanden misshandelt und auch selbst nicht misshandelt wird. Welche Formen von Grenzverletzungen und Gewaltsituationen treffen Sie in Ihrer Institution an? Zum Glück nur sehr wenige. Die Grenzverletzungen, mit denen wir konfrontiert sind, betreffen meist problematische oder aggressive Verhaltensweisen von Dienstleistungsnutzenden gegenüber Mitarbeitenden. So zum Beispiel eine schwere Beleidigung, eine Ohrfeige oder einen Schlag. «Unser Ziel besteht in der Förderung von Bientraitance zwecks der Prävention von Misshandlungen.» Blaise Curtenaz, Geschäftsführer der Stiftung Fara
ARTISET 09 I 2024 21 Wie ist das Vorgehen in solchen Situationen? Wir haben ein Meldeprotokoll eingeführt, das bei einer Verletzung der Integrität zur Anwendung kommt – und zwar unabhängig davon, ob die Person Opfer oder Zeuge ist. Den Betroffenen steht es frei, externe Ressourcen in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel eine professionelle Ombudsstelle, oder sich intern an jemanden zu wenden. Das bestehende Dispositiv innerhalb unserer Stiftung fördert die Gesprächskultur und bietet individuelle Supervisionen an, damit die betroffenen Mitarbeitenden ein Ereignis nicht allein verarbeiten müssen und wieder Vertrauen fassen können. Die geschädigte Person hat natürlich das Recht, Strafantrag zu stellen. Wir informieren sie darüber, ohne sie jedoch zu ermutigen oder ihr davon abzuraten, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Bei schwerer Gewalt behält sich die Geschäftsleitung der Stiftung das Recht vor, die Justiz einzuschalten, was das gleiche Verfahren auslöst wie beim Stellen eines Strafantrags. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass wir von der gewaltausübenden Person verlangen, die Institution zu verlassen. Und was unternehmen Sie auf Seiten der Dienstleistungsnutzenden respektive der Bewohnenden? Wir treffen eine Reihe von Massnahmen. Als Erstes weisen wir einmal mehr und deutlich auf unsere Nulltoleranz gegenüber grenzüberschreitenden Handlungen jeglicher Art hin. Danach führen wir ein Gespräch mit der gewaltausübenden Person, damit sie sich ihrer Handlung und deren Konsequenzen bewusst wird. Dabei arbeiten wir auch mit dem externen Verein Expression, der in der Gewaltberatung und Gewaltprävention tätig ist, sowie mit dem beruflichen und privaten Umfeld der Person zusammen. Für schwerere Fälle haben wir ein Verwarnungssystem eingeführt, damit die Person versteht, dass ihre Handlung nicht zu unterschätzen ist und wir die Situation sehr ernst nehmen. Nach drei Verwarnungen muss die Person gehen. Wie lassen sich Eskalationen verhindern? Wir verwenden ein Protokoll, das einem Beobachtungssystem ähnelt und uns ermöglicht, komplexe Situationen zu antizipieren. Wir erheben und teilen Beobachtungen zum Verhalten der Person in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld sowie im Umgang mit den Mitarbeitenden oder Angehörigen. Ziel dabei ist es, Vorzeichen und Risikofaktoren zu erkennen, die zu einer Eskalation führen könnten, und die Krise rechtzeitig abzuwenden. Neben der Intervention ist die Prävention grenzverletzender Verhaltensweisen wichtig. Was unternehmen Sie hier? Zurzeit fehlt es uns an einer echten Strategie zur Prävention von Grenzverletzungen. Wir führen jedoch verschiedene Aktionen durch, um unsere Zielgruppen für das Thema zu sensibilisieren. So organisieren wir jeden Herbst ein dreitägiges «In-Training» – eine Informations- und Schulungsveranstaltung für alle neuen Mitarbeitenden und Praktikanten. Ziel ist es, sie mit Blaise Curtenaz: «Zurzeit fehlt uns noch eine echte Strategie zur Prävention von Grenzverletzungen.» Foto: amn
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