Grenzverletzungen angehen | Magazin ARTISET | 9 2024

ARTISET 09 I 2024 11 aus den Nachbarstaaten würden indes zeigen, so der Bundesrat, «dass Frauen und Männer mit Behinderungen überdurchschnittlich stark von physischer, psychischer und sexueller Gewalt betroffen sind». Die Problematik werde dabei durch strukturelle Faktoren wie Benachteiligungen bei der Wohn- und Arbeitssituation sowie dem eingeschränkten Zugang zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten verstärkt. Ein besonders hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, hätten Menschen, «die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, von der Unterstützung Dritter abhängig oder von kommunikativen Einschränkungen betroffen sind». Aufgrund dieser Einschätzungen formuliert der Bundesrat eine Reihe von Massnahmen, die sich an die Bundesverwaltung richten. Zudem adressiert der Bund Empfehlungen an Kantone, in deren Zuständigkeit insbesondere die Bewilligung und die Aufsicht der Behinderteneinrichtungen fallen. Im Vordergrund stehen hier denn auch Empfehlungen, die kantonalen Massnahmen zum Schutz vor Gewalt in stationären Angeboten zu harmonisieren und auszubauen. Weitere Empfehlungen betreffen die Sicherstellung der Zugänglichkeit von Beratungs- und Schutzangeboten sowie die Förderung der Weiterbildung und Vernetzung der Fachpersonen. Unterschiede beim Schutz vor Gewalt Mitte Juni 2024 hat die Plenarversammlung der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) ein «Positionspapier» genehmigt, das den im bundesrätlichen Bericht umrissenen Handlungsbedarf anerkennt, im Detail prüft und Massnahmen vorschlägt. Erarbeitet worden ist das Positionspapier seit Juni 2023 unter der Leitung der SODK von verschiedenen Gremien aus dem Bereich Behinderung; unter anderem mittels Umfragen bei sämtlichen Kantonen und Diskussionen mit Vertretenden kantonaler Behindertenabteilungen aus allen Regionen der Schweiz. Ein grosser Teil der Kantone verlangt gemäss der SODK-Bestandesaufnahme im Rahmen des Bewilligungsverfahrens von stationären Einrichtungen Instrumente zum Schutz vor Gewalt und Übergriffen. Die Auswertung der Befragungen zeige jedoch, «dass eine grosse Heterogenität bezüglich dieser Instrumente besteht», heisst es im Positionspapier. Am häufigsten verlangt würden Konzepte für die Prävention und zum Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen. Weiter zeigt die Bestandesaufnahme, dass nur etwa die Hälfte der Kantone von den Institutionen die Einrichtung einer internen Meldestelle verlangt, an die sich gewaltbetroffene Personen wenden können. Der Kanton Zug hat die Aufsicht komplett umgekrempelt Um die Empfehlungen des Bundesrats umzusetzen, macht das Positionspapier den Vorschlag, eine Arbeitsgruppe mit Vertretenden von Kantonen aus allen Regionen der Schweiz einzusetzen. Diese soll Beispiele guter Praxis aus den Kantonen zusammengetragen und allen zur Verfügung stellen. Viele Kantone beschäftigen sich schon länger mit dem Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung, unterstreicht Anita Müller-Rüegg, Co-Leiterin der Abteilung Behinderung und Betreuungsleistungen im Kanton Zug. Gemeinsam mit anderen Kantonsvertretenden war sie an der Erarbeitung des Positionspapiers beteiligt. Innerhalb der Institutionen gehe es ganz besonders darum, so Müller, Mitarbeitende für die subtilen Formen von Gewalt zu sensibilisieren. Aus solchen Gründen plädiere die SODK etwa dafür, beim Thema Gewalt immer auch den Umgang mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen mitzudenken. Müller: «Freiheitsbeschränkende Massnahmen sind immer auch Gewalt, man muss diese deshalb sehr sorgfältig anwenden.» Mit dem neuen, Anfang Jahr in Kraft getretenen Gesetz über Leistungen für Menschen mit Behinderung und Betreuungsbedarf hat der Kanton Zug unter anderem klar definiert, über welche Instrumente die Institutionen zum Schutz vor Gewalt verfügen müssen. Dazu gehören verschiedene Konzepte und auch die Verpflichtung zur Einführung einer internen Meldestelle. Um eine Verbesserung der Qualität zu erreichen, gerade auch bei einem solch sensiblen Thema wie Gewalt und Grenzverletzungen, dürfe man es aber nicht mit solchen Regelungen bewenden «Aufgrund der nationalen Diskussionen haben wir bei unseren Aufsichtsbesuchen derzeit das Thema Gewalt gewählt. Wir überprüfen zum Beispiel, welche Gewaltvorfälle dokumentiert worden sind und wie man darauf reagiert hat.» Anita Müller-Rüegg, Kanton Zug

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