Grenzverletzungen angehen | Magazin ARTISET | 9 2024

ARTISET 09 I 2024 13 belassen, ist Anita Müller überzeugt. Der Kanton Zug habe deshalb bereits im Jahr 2019 die Aufsicht über die Institutionen komplett umgekrempelt: Alle vier Jahre an jeweils ein bis vier Halbtagen statten Vertretende der kantonalen Abteilung für Behinderung den Institutionen einen Besuch ab. «Bei diesen Besuchen reden wir nicht nur mit der Heimleitung, sondern auch mit Mitarbeitenden und den Menschen mit Behinderung.» Bei jedem Besuchszyklus steht ein anderes Schwerpunktthema im Zentrum. «Aufgrund der nationalen Diskussionen haben wir jetzt das Thema Gewalt gewählt.» Dabei werde zum Beispiel überprüft, welche Gewaltvorfälle dokumentiert worden sind und wie man darauf reagiert hat. Es gehe auch darum, herauszufinden, ob die Mitarbeitenden die Konzepte kennen. «Bei den Dienstleistungsnutzenden, also den Bewohnenden, interessiert es uns, ob sie darüber Bescheid wissen, was sie unternehmen können, wenn sie ein ungutes Gefühl haben.» Viele Institutionen mussten sich an die neue Form der Aufsicht erst gewöhnen. «In der Zwischenzeit hat es sich eingespielt, und wir erhalten auch positive Rückmeldungen», beobachtet Anita Müller. Besonders gut an kommen die Besuche bei den Menschen mit Behinderung: «Sie freuen sich darüber, dass der Kanton mit ihnen spricht und sie anhört.» Der Kanton Luzern lässt seine Konzepte überprüfen Wie der Kanton Zug statten auch die kantonalen Behörden im Kanton Luzern den Behinderteninstitutionen in regelmässigen Abständen einen Besuch ab. «Wir prüfen dabei, ob Konzepte bestehen und wie diese, gerade auch im Bereich Gewaltprävention und Krisenintervention, im Alltag umgesetzt werden und ob interne Schulungen durchgeführt werden», sagt Heidi Schwander, Abteilungsleiterin Behinderung und Betreuung; auch sie hat bei der Erarbeitung des Positionspapiers mitgewirkt. «Wir versuchen bei unseren Aufsichtsbesuchen mit den Dienstleistungsnutzenden in einen direkten Dialog zu treten.» Luzern habe ein ähnliches Aufsichtskonzept wie der Kanton Zug, so Schwander. Sie schätzt den Austausch unter den Kantonen, in der Zentralschweiz und innerhalb der SODK-Arbeitsgruppen. «Es muss nicht jeder Kanton das Rad neu erfinden, sondern man kann sich an gut funktionierenden Instrumenten anderer Kantone orientieren.» Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über Gewalt und da die entsprechenden kantonalen Wegleitungen in die Jahre gekommen sind, sind die Verantwortlichen im Kanton Luzern derzeit damit beschäftigt, diese im Hinblick auf mögliche Anpassungen zu überprüfen. Es bestehen derzeit keine detaillierten Vorgaben. So kennt Luzern etwa keine Verpflichtung, eine interne Meldestelle zu führen. Rund die Hälfte der Institutionen verfügt dennoch über eine solche. «Institutionen, die eine Meldestelle haben und auch die entsprechenden Weiterbildungen anbieten, sind für die Thematik besser sensibilisiert», beobachtet Schwander. Seit 2023 müssen die Institutionen im Kanton Luzern im Rahmen des jährlichen Qualitätsreporting die Anzahl und die Art freiheitsbeschränkender Massnahmen rapportieren. «Solche Massnahmen sind Ausdruck struktureller Gewalt und brauchen deshalb eine besondere Aufmerksamkeit.» Schon allein die Definition freiheitsbeschränkender Massnahmen sei sehr anspruchsvoll. «Mit der Verpflichtung, diese Massnahmen zu rapportieren, haben wir eine allgemeine Diskussion rund um das Thema Gewalt lanciert.» Solche Diskussionen ermöglichen es, eine gemeinsame Haltung zum Thema zu fördern, betont Schwander, «und uns darüber klar zu werden, was alles unter Gewalt zu verstehen ist». Sensibilisierung des Umfelds und der Gesellschaft Heidi Schwander und Anita Müller betonen beide, dass die Diskussion rund um Gewalt an Menschen mit Behinderung breit geführt werden muss. In der Pflicht stehe hier ganz besonders der Bund. «Wir brauchen eine öffentliche Sensibilisierungs- und Informationskampagne», fordert Anita Müller. «Menschen mit Behinderung erfahren im öffentlichen Raum immer wieder Grenzverletzungen unterschiedlicher Art». Sensibilisierungsarbeit braucht es auch bei den Angehörigen. Und auch Menschen mit Behinderungen müssen wissen, dass sie sich äussern dürfen, wenn sie sich in und mit einer Situation unwohl fühlen. Heidi Schwander plädiert dafür, die breite – alle Teile der Gesellschaft einschliessende – Sensibilisierungsarbeit im Bereich Alter auch für Menschen mit Behinderung zu nutzen. «Wir dürfen nicht in Alterskategorien oder Wohnformen denken, sondern entlang den Bedürfnissen, und diese sind bei Menschen im Alter und bei Menschen mit Behinderung sehr ähnlich.» «Mit der Verpflichtung, freiheitsbeschränkende Massnahmen zu rapportieren, haben wir eine allgemeine Diskussion rund um das Thema Gewalt lanciert.» Heidi Schwander, Kanton Luzern Im Fokus

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