ARTISET 09 I 2024 17 Im «Le Foyer» in Lausanne, einem Kompetenzzentrum für Sehbehinderungen, gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientraitance und das Tandem Madame und Monsieur SOS. Mithilfe des Dispositivs «Prävention von Misshandlung – Förderung von Bientraitance», das 2016 offiziell eingeführt wurde, soll die Stimme der Bewohnerinnen und Bewohner bei internen Beschlussfassungen des Heims mehr Gehör finden. Von Anne-Marie Nicole An der Route d’Oron 90 oberhalb von Lausanne ist das alte Gebäude, das über ein Jahrhundert den Verein Le Foyer beherbergt hatte, einem Neubau gewichen. Der Verein wurde 1900 auf Initiative einer Waadtländer Primarschullehrerin gegründet. Sie wollte dem Mangel an Plätzen für blinde oder sehbehinderte Kinder mit geistiger Beeinträchtigung entgegenwirken. Heute ist «Le Foyer» ein anerkanntes Kompetenzzentrum für Sehbehinderungen. Ungefähr hundert Erwachsene leben in Wohngruppen und arbeiten in Werkstätten. Seit rund 15 Jahren gibt es auch mehrere spezielle Angebote für etwa 30 Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Die Eingangstür des neuen Gebäudes führt in eine grosse, lichtdurchflutete Halle, die auf beiden Seiten in breite Gänge übergeht. Gegenüber geben Panoramafenster den Blick auf eine Terrasse und einen Park frei, in dem sich drei kleine Gebäude befinden. Sie wurden einige Jahre zuvor errichtet und beherbergen Wohngruppen und Tageszentren. Das Hauptgebäude umfasst eine Rezeption, Verwaltungsräume, Werkstätten, ein Geschäft, ein Restaurant, vier Wohnbereiche und einen Mehrzweckraum. Im Erdgeschoss hängt noch der Geruch von frischer Farbe in der Luft. Das Ockerrot einer Wand kontrastiert mit dem makellosen Weiss des restlichen Raums. Bisher gibt es noch keine Beschilderung, sieht man von den Handläufen aus hellem Holz ab, die als Wegweiser dienen. Nur ein kleiner Sessel und ein Aufsteller mit ein paar Broschüren nehmen eine Ecke der Eingangshalle nicht weit von der Rezeption ein. «Wir sind erst vor ein paar Wochen eingezogen und brauchen noch Zeit, um die zahlreichen Details endgültig zu gestalten», erläutert Marie-Anne Cristuib, Heilpädagogin, Bereichsleiterin und Koordinatorin des Dispositivs «Prävention von Misshandlung – Förderung von Bientraitance». Die Einweihung des Gebäudes ist für Mitte September geplant. «La Pinte à Didi» Im Untergeschoss ist Frédéric Lüscher, genannt Freddy, ungeduldig. Er inspiziert den Inhalt der Schränke und des Kühlschranks, wo bald «La Pinte à Didi» eröffnet wird: ein Kiosk, dessen Name auf die phonetische Endung von Freddy und seinem Kollegen Hansruedi anspielt. Die beiden sind für diesen künftigen Ort der Begegnung und Gemeinschaft verantwortlich. Freddy – ein Mann in den Siebzigern – kam mit 19 Jahren ins «Le Foyer». Vorher war er seit seiner frühesten Kindheit in anderen Heimen, «als Ohrfeigen und Anbrüllen noch kaum jemanden schockierten», erzählt er. Hansruedi hingegen, 94, wohnt schon seit 1941 im «Le Foyer»! Die beiden Heimbewohner leiten nicht nur den Kiosk, sondern gehören auch der Kommission Bientraitance an. Im Verein Le Foyer machte man sich bereits zu Beginn der 2000er-Jahre über das Thema Misshandlung Gedanken. Damals erliess der Kanton Waadt Gesetze zu freiheitseinschränkenden Massnahmen bei Menschen mit Behinderung: Zuvor war es in Waadtländer Heimen zu Misshandlungen
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