Grenzverletzungen angehen | Magazin ARTISET | 9 2024

18 ARTISET 09 I 2024 gekommen, die damals für Schlagzeilen sorgten. «Le Foyer» setzte die verschiedenen Massnahmen zur Prävention von Misshandlung und Förderung von Bientraitance (frei übersetzt: «gute Behandlung») ab 2006 um. Das Dispositiv «Bientraitance» wurde jedoch erst 2016 offiziell dokumentiert und im Qualitätssystem des Vereins verankert. Diese Dokumentation führt die Grundprinzipien auf und beschreibt die Möglichkeiten zur Meldung von Misshandlungssituationen sowie die drohenden Folgen. Sie enthält auch eine Definition von Misshandlung, die vom Europarat übernommen wurde. Dazu gehören freiwillige oder unfreiwillige Handlungen sowie körperlicher und sexueller Missbrauch, psychologische Schäden, finanzieller Missbrauch, Vernachlässigung sowie materielle oder emotionale Vernachlässigung. «Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung», präzisiert Marie-Anne Cristuib und nennt als Beispiel unangemessenes Verhalten von Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem Respekt beruht: Bewohnende ohne deren Zustimmung duzen, ihnen Spitznamen geben, ein Päckchen anstelle der Person öffnen, an die es adressiert ist, oder draussen in Anwesenheit von Bewohnerinnen und Bewohnern rauchen, ohne sich «Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung, zum Beispiel unangemessenes Verhalten von Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem Respekt beruht.» Marie-Anne Cristuib, Koordinatorin des Dispositivs «Bientraitance» Gedanken darüber zu machen, ob es sie stört. «Diese Verhaltensweisen sind per se nicht schlimm. Aber sie sind Machtmissbrauch und mangelnde Rücksichtnahme, die gemeldet und angegangen werden müssen.» Monsieur und Madame SOS Im «Le Foyer» gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientraitance und die Meldestelle in Form von Madame und Monsieur SOS. Das SOS-Tandem, eine Funktion, die von Fachkräften aus dem «Le Foyer» übernommen wird, ist die Exekutive in diesem Dispositiv. Es behandelt Beschwerden – sei es von Heimbewohnenden, die sich misshandelt fühlen oder misshandelt wurden, oder von Mitarbeitenden, die ihnen zufolge von Bewohnenden misshandelt wurden. Bei der Einführung dieses Dispositivs gab es noch zahlreiche Beschwerden. Mittlerweile jedoch bearbeiten die beiden nur noch eine Handvoll jährlich, berichtet Marie-Anne Cristuib. Auch sie war Madame SOS, bevor sie die Leitung des gesamten Dispositivs übernahm. Einmal wöchentlich ist das SOS-Tandem am Kiosk und steht den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung. Die gemeldeten Situationen beziehen sich im Allgemeinen auf Unzufriedenheit mit dem Heimalltag, eine wenig respektvolle Haltung oder Sorgen hinsichtlich ihrer Rechte. Je nach Art und Schweregrad des Falls sucht das Tandem direkt im Gespräch mit den betroffenen Personen eine Lösung durch Mediation oder Wiedergutmachung. Bei komplexen Situationen und nachgewiesener Misshandlung melden Madame und Monsieur SOS den Fall den Verantwortlichen, um den Übergriffen ein Ende zu setzen und wieder für ein gutes Zusammenleben zu sorgen. Bewohnenden, die sich sprachlich nicht verständigen und nicht eigenständig an Madame und Monsieur SOS wenden können, stehen demnächst Botschafterinnen und Botschafter der «Bientraitance» zur Verfügung. Das Herz des Dispositivs «Bientraitance» Die Kommission Bientraitance mit ihren zehn Selbstvertretenden bildet die Legislative. «Es ist das Herz des Dispositivs», fasst Marie-Anne Cristuib zusammen, die die wenigen jährlichen Sitzungen der Kommission leitet. Diese Instanz spielt in der Tat eine zentrale Rolle: Sie bearbeitet Themen im Zusammenhang mit der Prävention von Misshandlung und Förderung von «Bientraitance», um die Rücksichtnahme auf die Bewohnerinnen und Bewohner sowie gute berufliche Praktiken zu fördern. Sie wählt Madame und Monsieur SOS, unterstützt sie und bewertet deren Arbeit. Sie validiert Änderungen von Texten oder Verfahren des Dispositivs. Vor allem leiten die Mitglieder der Kommission Beschwerden oder Vorschläge der Bewohner weiter und weisen das SOS-Tandem auf persönliche Situationen oder Situationen in der Einrichtung hin, die sie als misshandelnd empfinden. Frédéric Lüscher ist seit der Gründung 2010 Mitglied der Kommission Bientraitance. Er ist ein besonnener, aufmerksamer Im Fokus

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