ARTISET 09 I 2024 25 Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt sind in Kinder- und Jugendinstitutionen wichtige Themen und verlangen eine wiederkehrende Auseinandersetzung damit. Der Institutionsleiter Patrick Seigerschmidt von der GO DEF erläutert, welche Grundsätze in den neuen Verhaltenskodex seiner Organisation einfliessen und welche Massnahmen getroffen werden, damit ein Schutzraum für die Kinder und Jugendlichen sowie die Angestellten aufrechterhalten werden kann. Von Salomé Zimmermann Es ist kein Geheimnis, doch die Fakten erschrecken trotzdem: Jedes siebte Kind erlebt sexualisierte Gewalt, und über die Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen erzählt nichts davon – und wenn, dann erst im Erwachsenenalter. Unterschiedlichste Formen von grenzverletzendem Verhalten und sexualisierter Gewalt sind auch Thema in jeder sozialen Institution – insbesondere dort, wo Kinder- und Jugendliche leben. Mittlerweile gibt es gute Leitfäden – darunter derjenige von Youvita, der im Kasten vorgestellt wird –, an denen sich Institutionen orientieren können, um ein eigenes, angepasstes Konzept zu entwickeln. Solche Richtlinien bedeuten einen ersten entscheidenden Schritt, noch wichtiger ist jedoch die konkrete Umsetzung im Alltag, die viel Sorgfalt und Aufwand erfordert. Patrick Seigerschmidt ist Institutionsleiter der Gesamtorganisation Dialogweg – Eichbühl – Fennergut (GO DEF), welche sozialpädagogisches Wohnen anbietet und zur Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (zkj) gehört. Er teilt seine Erfahrungen und erzählt, wie er und seine Mitarbeitenden mit dem heiklen Thema umgehen. Nähe und Distanz lernen «Wir befinden uns mitten im Prozess der Überarbeitung unseres Verhaltenskodex, den wir neu mit den Vorgaben des Bündner Standards kombinieren», sagt Patrick Seigerschmidt. Die GO DEF teilt sich auf drei Standorte auf, und in den gemischten Wohngruppen leben Kinder und Jugendliche aus belasteten Familien ab fünf Jahren bis zum Ende der Erstausbildung zusammen. «So müssen unsere Schutzbefohlenen fortlaufend lernen, was in welchem Alter möglich ist und wo die Grenzen liegen», sagt Seigerschmidt. Der Umgang mit Nähe und Distanz sowie Intimität werde in den Wohngruppen immer wieder thematisiert und sei ein wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit. «Prävention steht weit oben auf der Agenda, und das Setzen und Akzeptieren von Grenzen gehört zum Zusammenleben», sagt der Institutionsleiter. Für die Erarbeitung des neuen Verhaltenskodex, der bald finalisiert wird, hat er Unterstützung von der Fachstelle Limita geholt. Zudem hat er die Gruppe der Mitwirkenden möglichst breit gefächert abgestützt, damit verschiedene Perspektiven einfliessen und der Leitfaden praxisnah und hilfreich ist. «Der ganze Prozess ist eine Teamarbeit», betont Seigerschmidt. Sobald der Verhaltenskodex in der Endfassung vorliegt, gibt es Schulungen für das gesamte Personal von rund 80 Personen, «das ist aufwendig, denn wir haben einen 365-Tage-Betrieb». Der fertige Leitfaden wird zudem zu gegebener Zeit auf der Website aufgeschaltet. Fluktuation erschwert Situation Welche Grundgedanken prägen den neuen Verhaltenskodex der GO DEF? «Wir setzen die Latte absichtlich hoch, um ein deutliches Signal zu geben», erläutert Patrick Seigerschmidt. Denn: In Zeiten von Fachkräftemangel sei die Fluktuation hoch, und so seien anspruchsvolle Richtlinien noch wichtiger, um einen gewissen Standard zu halten. Dazu gehört bei der GO DEF etwa, dass Körperkontakt grundsätzlich nur von den Schutzbefohlenen und nicht von den Mitarbeitenden ausgehen soll. «Wir beschränken den Körperkontakt aufs Minimum, sind aber trotzdem für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen da», so Seigerschmidt. Mitgefühl beispielsweise könne auch verbal ausgedrückt werden. «Wir sind nun einmal keine Familie, auch wenn wir familienähnlich funktionieren», so der Institutionsleiter. Für jeden Schützling wird ein tägliches Journal geführt, in dem auch vermerkt wird, wenn Körperkontakt stattgefunden hat. «Diese Transparenz ist uns wichtig, deshalb betreiben wir den Zusatzaufwand», erläutert Seigerschmidt. Im Kodex sind zudem ganz konkrete Risikosituationen beschrieben – etwa Gute-Nacht-Rituale, Fahrten im Auto oder Ausflüge ins Schwimmbad. Diese gehören einerseits zum Alltag, andererseits sollen sie reflektiert und im Team besprochen werden, da solche Situationen ausgenutzt werden könnten.
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