Grenzverletzungen angehen | Magazin ARTISET | 9 2024

ARTISET 09 I 2024 27 Im Fokus «Das Bewusstsein der eigenen Rolle, der damit verbundenen Macht und Verantwortung sowie der Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen ist entscheidend», merkt Seigerschmidt an. Entsprechend werde der Verhaltenskodex von allen Mitarbeitenden unterschrieben und spiele auch in Vorstellungsgesprächen und bei der Einführung neuer Kolleginnen und Kollegen eine wichtige Rolle. «Im pädagogischen Bereich sind auch schwarze Schafe unterwegs, das kann man nicht beschönigen, und wir versuchen, die Hürde für Grenzverletzungen möglichst hoch zu legen», so Seigerschmidt. Besonders viel Aufmerksamkeit und Verständnis ist nötig bei Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Herkunftsfamilie Grenzverletzungen und Missbrauch erfahren haben. Allerdings wird die Institution nur informiert, wenn ein Strafverfahren stattgefunden hat – und das ist verhältnismässig selten der Fall. «Wir haben manchmal einen Verdacht bei bestimmten Verhaltensweisen, aber wir wissen das meistens nicht mit Bestimmtheit», so Seigerschmidt. «Umso wichtiger, dass die Erwachsenen die Verantwortung für das richtige Mass an Nähe und Distanz übernehmen», betont er. Mehr Prävention, weniger Vorfälle Ein klarer Verhaltenskodex ist wichtig, aber noch wichtiger ist, dass er auch gelebt wird, sonst verstaubt das Dokument in der Schublade oder auf der Website. «Es geht in erster Linie um eine Kultur und eine Haltung», verdeutlicht Seigerschmidt. «Auch mit dem besten Leitfaden ist es nicht einfach, eine gemeinsame Kultur der Offenheit und Transparenz herzustellen und so einen Schutzraum für die Schützlinge und die Angestellten zu entwickeln», weiss der Institutionsleiter. Es heisst, Sensibilisierungsarbeit fortlaufend zu betreiben und das Thema immer wieder aufzugreifen – und zwar auf allen Ebenen. «Das Verhalten der Kinder und Jugendlichen untereinander stellt für uns quantitativ und qualitativ die grösste Herausforderung im Bereich der Grenzverletzungen dar», sagt Seigerschmidt. Ein sorgsamer verbaler und physischer Umgang miteinander bedeutet einen Effort für alle Beteiligten. «Unsere Hoffnung ist, dass wir weniger problematische Vorfälle haben, je mehr wir in die Prävention investieren – wir wollen das Risiko möglichst kleinhalten», so Seigerschmidt. Und was passiert, wenn ihm ein Verdacht oder eine Beobachtung gemeldet wird? «Wenn ein Vorkommnis, in das ein Mitarbeitender involviert ist, bis zu mir gelangt, dann nehmen wir die Person situativ aus dem Dienst heraus, bis alles geklärt ist. Wir arbeiten in solchen Fällen auch mit externer Begleitung zusammen, etwa mit der Beratungsstelle Castagna», so Seigerschmidt. Er fügt hinzu: «Zum Glück habe ich diese Situation sehr selten erlebt in den 15 Jahren, die ich nun in der Institution GO DEF tätig bin.» Der Institutionsleiter gibt zu bedenken, dass im Bereich sexualisierte Gewalt die Social Media eine zunehmende Rolle spielen. Ein aktuelles Beispiel betreffe etwa eine Heranwachsende, die per Instagram von einer vermeintlichen anderen Jugendlichen aufgefordert wurde, durch Treffen mit Männern viel Geld zu verdienen. Die junge Frau wandte sich an ihre Vertrauensperson, und in der Folge nahm eine Leitungsperson Kontakt mit der Polizei auf. Da die Jugendliche den Chatverlauf jedoch gelöscht hatte, fehlte der Nachweis, damit die Polizei aktiv werden konnte. Zwei neue Meldestellen Die Stiftungsleitung der Zürcher Kinder- und Jugendheime (zkj), der GO DEF angehört, hat entschieden, für alle ihre Institutionen den Bündner Standard einzuführen. «Im Zug dieser Implementierung gibt es neu für unsere drei Standorte zwei Meldestellen für Vorfälle, die für einen jeweils anderen Standort zuständig sind», erläutert Seigerschmidt. So gebe es keine direkten Verflechtungen und tiefere Hürden. Die entsprechenden Mitarbeitenden werden derzeit ausgebildet. Die Idee ist, dass diese dann später einmal mit Personen von anderen Meldestellen der Stiftungsinstitutionen einen regelmässigen Austausch pflegen und gegenseitige Intervision betreiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt immer wieder angegangen werden muss. «Dies», so Patrick Seigerschmidt, «bedeutet im Alltag harte Knochenarbeit.» LEITFADEN ZUR PRÄVENTION VON GRENZVERLETZUNGEN Jede Institution funktioniert anders und braucht deshalb einen eigenen Verhaltenskodex, um grenzverletzendes Verhalten und sexualisierte Gewalt zu verhindern. Der Leitfaden «Prävention von Grenzverletzungen und sexueller Ausbeutung» von Youvita, der in Zusammenarbeit mit Limita entstanden ist, verweist auf die zentralen Aspekte, die es dabei zu berücksichtigen gilt. Ausserdem stellt der Leitfaden praktische Vorlagen zur Verfügung und enthält eine Sammlung von weiterführenden Links und Informationen «Das Verhalten der Kinder und Jugendlichen untereinander stellt für uns die grösste Herausforderung im Bereich der Grenzverletzungen dar.» Patrick Seigerschmidt, Institutionsleiter GO DEF

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