Innovationen entwickeln und umsetzen

ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus xxx Die digitale Memorybox hilft Kindern und Jugendlichen, sich zu erinnern Ein Wohnprojekt im Kanton Genf lebt das inklusive Miteinander Mit einem Risikomanagement-System Zukunftschancen erkennen Im Fokus Innovationen entwickeln und umsetzen Ausgabe 06 I 2023

www.Lohmann-Rauscher.com L&R – international tätig, in der Region verwurzelt. Der Mensch im Fokus. Ihr Wohl steht im Zentrum unseres Handelns. Wir sind der Problemlöser. Mit Expertise und Sorgfalt stehen wir Ihnen zur Seite. Lohmann & Rauscher (L&R) ist ein international führendes Unternehmen für Medizin- und Hygieneprodukte höchster Qualität. In der Schweiz finden Sie uns am Standort St. Gallen. Als Lösungsanbieter für komplexe Anforderungen in der Pflege und Versorgung von Patient:innen entwickeln, produzieren und vertreiben wir unter anderem Produkte, Konzepte und Services für die Wundversorgung, Binden und Verbände, OP-Set-Systeme für Klinik und Praxis sowie Produkte für die Unterdrucktherapie (CNP). Unser Kompetenzfeld. Gesundheit definiert unsere Vision und Werte. Zu unserem Webshop: Lohmann & Rauscher AG · Oberstrasse 222 · 9014 St. Gallen · Schweiz Lohmann & Rauscher (L&R) ist ein international führendes Unternehmen für Medizin- und Hygieneprodukte höchster Qualitä . In der Schweiz finden Sie uns am Standort St. Gallen. Als Lösungsanbieter für komplexe Anforderungen in der Pflege und Vers rg ng vo Patient:innen entwickeln, produzieren und vertreiben wir unter anderem Produkte, Konzepte und Services für die Wundversorgung, Binden und Verbände, OP-Set-Systeme für Klinik und Praxis sowi Produ te fü die Unterdrucktherapie (CNP). Jetzt bequem, schnell und unabhängig Produkte im L&R Webshop bestellen! Sie erreichen unser Bestellportal 24 Stunden, 7 Tage in der Woche. Wir sind der Problemlöser. Mit Expertise und Sorgfalt stehen wir unseren Kund:innen, Mitarbeiter:innen, Anwender:innen und Patient:innen zur Seite. Der Mensch im Fokus. Das Wohl unserer Mitarbeiter:innen, Kund:innen, Anwender:innen und Patient:innen steht im Zentrum unseres Handelns. Unser Kompetenzfeld. Gesundheit definiert unsere Vision und Werte. L&R – international tätig, in der Region verwurzelt. Hier finden Sie den L&R Webshop: www.Lohmann-Rauscher.com 0123_LuR_AZ_Imageanzeige_LRCH_deutsch_210x297mm.indd 1 08.02.23 14:24

ARTISET 06 I 2023 3 Editorial «Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie einzelnen Fachpersonen kommt eine entscheidende Rolle im innovativen Prozess zu.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Erst jüngst wieder, im Rahmen der Abstimmung über das Klimaschutzgesetz, hat die Schweiz über die Notwendigkeit von Innovationen respektive innovationsfördernden Massnahmen diskutiert: Neue Technologien sind zentral für den Klimaschutz. Unternehmen sollten deshalb gemäss der Vorlage dabei unterstützt werden, in innovative Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen zu investieren. Nicht nur im Bereich umweltfreundlicher Technologien, sondern ganz generell sind grosse und auch kleineren Unternehmen gefordert, sich laufend weiterzuentwickeln und neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen, um den sich stets wandelnden Bedürfnissen der Kundschaft zu entsprechen. Innovationen, zu denen auch die Bereitstellung entsprechender Gelder gehört, sind in vielen Betrieben hierzulande eine Selbstverständlichkeit geworden. Innovationen sind gerade auch im Sozial- und Gesundheitsbereich gefragt. Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen braucht es namentlich neue Ideen, Methoden oder Herangehensweisen in der Pflege, Betreuung, Beratung und Begleitung vulnerabler Gruppen. Im Unterschied zu technologischen Innovationen ist aber die Notwendigkeit zu sozialen Innovationen im Bewusstsein der Öffentlichkeit, bei Politik und Behörden, aber auch bei vielen Leistungserbringenden noch eher wenig ausgeprägt. Im Interview mit dem Magazin Artiset zeigt Anne Parpan-Blaser von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW auf, wie etwa die UN-BRK oder auch unsere älter werdende Gesellschaft ein breites Feld für innovative Projekte bieten (Seite 10). Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen im Sozial- und Gesundheitsbereich brauche es aber, wie Anne Parpan-Blaser betont, spezifische Förderprogramme, um die nötigen Entwicklungen flächendeckend voranzutreiben. Vor rund zwei Jahren hat sich deshalb der Verein zur Förderung der sozialen Innovation gebildet (Seite 16). Neben politischen Bemühungen will der Verein mittels Vernetzung von Hochschulen, Leistungserbringenden und Leistungsbeziehenden sowie mithilfe von partizipativen Arbeitsmethoden Innovationen anstossen. Wie die Berichte in unserem Fokus deutlich machen, kommt den Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie einzelnen Fachpersonen eine entscheidende Rolle im innovativen Prozess zu: Innovationen entstehen dort, wo engagierte Fachpersonen für die und mit den ihnen anvertrauten Menschen Verbesserungen erzielen möchten. Dazu gehören Mut und Neugier, auch Risikobereitschaft. In seinem Essay fordert Markus Leser, Senior Consultant des Branchenverbands Curaviva, Leistungserbringende dazu auf, nicht darauf zu warten, bis Behörden und Versicherer die Probleme lösen, sondern selbst aktiv zu werden (Seite 23). Unsere Beispiele lassen zudem erkennen, welch grosse innovative Kraft in der Zusammenarbeit liegt: in der Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern, aber auch mit Forschungseinrichtungen und Betroffenen sowie deren Vertretungen. Auf Zusammenarbeit beruht auch das neue Gesetz über soziale Einrichtungen imKanton Zug (Seite 29), in das die Sicht der Betroffenen und die Erfahrung innovativer Leistungserbringer eingeflossen sind. Titelbild: Für alle Situationen im Alltag gerüstet – mit gerade mal 24 Piktogrammen. Entwickelt wurden sie von der Fondation Clair Bois im Kanton Genf. Foto: amn

Patronat Presenting Partner & Exklusive Partner «Best of the Best» Presenting Partner Veranstalter Produkte von Integrationsbetrieben der Schweiz. Die Schweiz sucht die besten Ideen und Produkte aus Integrationsbetrieben Socialstore Award 2023 Ausgezeichnete Produkte aus Integrationsbetrieben  jetzt teilnehmen  Die Socialstore Awards sind eine Auszeichnung für Produkte und Innovationen aus sozialen Institutionen der Schweiz. Die Preise werden in 4 Kategorien vergeben:  Kooperation  Food/Genuss & Spezialitäten  Deko & Wohnen  Firmengeschenke  Teilnahmeschluss ist der 20. September 2023. Die Preisverleihung findet am 21. November 2023 anlässlich der Tagung von INSOS in der Eventfabrik Bern statt. Alle weiteren Informationen und das Teilnahmeformular auf www.socialstore.ch NEU 2023: Publikumspreis «Best of the Best» – präsentiert von sozjobs.ch

Inhalt ARTISET 06 I 2023 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 2. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007Bern•Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 11 11 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@ artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8× deutsch (je 4600 Ex.), 4× französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2022 (nur deutsch): 3205 Ex. (davon verkauft 2989 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprachemit der Redaktion undmit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 6 Der erste mobile Pf legeexpertise-Dienst der Schweiz 10 Professorin Anne Parpan-Blaser erläutert soziale Innovationen 13 Ein Haus für soziale Innovationen und Solidarität in Nyon VD 16 Ein Verein will mit der Förderung von Netzwerken Neues anstossen 20 Mit Piktogrammen kommunizieren 23 Markus Leser plädiert für mehr Neugier und Mut in der Langzeitpf lege 26 Ein innovatives Sozialprojekt in Genf 29 Wie der Kanton Zug die Behindertenhilfe auf neue Füsse stellt kurz & knapp 32 Was die Pandemie bewirkte Aktuell 34 Die BSZ Stiftung beweist: Nachhaltigkeit lohnt sich – auch finanziell 38 Risikomanagement in den Institutionen 40 Eine inklusive Wohnbaugenossenschaft 44 Eine Memorybox für Kinder: Damit die Erinnerungen sie auf ihrem Weg begleiten 48 Herausforderndes Verhalten besser verstehen und entschärfen Politische Feder 50 Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit 26 44 50

6 ARTISET 06 I 2023 Im Fokus Die mobile Pflegeexpertise: Ein neues Modell

ARTISET 06 I 2023 7 Eine Pflegeexpertin oder ein Pflegeexperte kann mehrere Betriebe betreuen. Und ein Team von mehreren Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten kann diese Betriebe bei verschiedenen Pflegethemen professionell unterstützen. Das ist die Idee von Advacare. Von Elisabeth Seifert Der Firmenname «Advacare» steht verkürzt für Advanced Care, was so viel wie fortschrittliche Pflege bedeutet. Das junge Unternehmen, rund drei Jahre auf dem Markt, ein Start-up im sozialmedizinischen Bereich, hat sich denn auch der fortschrittlichen Pflege verschrieben – und zwar mit dem neuen Versorgungsmodell «mobile Pflegeexpertise». Ein Team mit unterschiedlichen Spezialisierungen unterstützt stationäre und ambulante Einrichtungen der Langzeitpflege dabei, ihre Pflegequalität stetig weiterzuentwickeln. Gründerin von Advacare, Geschäftsführerin und selbst mobile Pflegeexpertin ist Suleika Kummer. «Ich bin eigentlich gar keine Geschäftsfrau», bekennt die 35-Jährige lachend, auch wenn sie sich darüber freut, dass ihre Firma langsam wächst. «Mein Herz schlägt für die Pflege», betont sie. Und zwar ganz besonders für die Langzeitpflege. «Bereits seit meiner Kindheit faszinieren mich ältere Menschen», heisst es auf ihrem LinkedIn-Profil. Nach der beruflichen Grundbildung zur Fachangestellten Gesundheit samt Berufsmaturität arbeitete sie in verschiedenen Institutionen der Langzeitpflege. Es folgte ein Studium der Pflegewissenschaft an der Berner Fachhochschule, das sie mit dem Bachelor abgeschlossen hat. Danach war sie über mehrere Jahre Leiterin Pflegeentwicklung in einer grösseren Institution mit mehreren Standorten. Ausschlaggebend dafür, dass sie im Jahr 2020 mit Advacare den ersten mobilen Pflegeexpertise-Dienst der Schweiz gegründet hat, sei die «Not» gewesen, unterstreicht Suleika Kummer. Sie spricht damit vor allen die Not respektive die Herausforderungen der vielen kleineren und mittleren Institutionen an, mit denen sie an regionalen Netzwerktreffen zu spezifischen Pflegethemen in Kontakt kam. «Obwohl ein grosser Bedarf an professioneller Pflege besteht, fehlt es in diesen Institutionen oft an entsprechend ausgebildetem Fachpersonal.» Und selbst in grösseren Pflegeheimen gibt es häufig keine Pflegeexpertin oder Pflegeexperten mit akademischem Abschluss (Bachelor oder Master). Betriebe können voneinander profitieren Der Fachkräftemangel verbunden mit fehlenden finanziellen Ressourcen erschwert es gerade den vielen kleineren Alters- und Pflegeeinrichtungen sowie Spitex-Organisationen, die zunehmend komplexer werdenden Bedürfnisse der Bewohnenden oder Klienten abzudecken. Für viele Pflegeexpertinnen und -experten mit einer Bachelor- oder Masterausbildung sei zudem die Langzeitpflege – noch – zu wenig interessant, wie Kummer beobachtet. Aktuell arbeiten von den Pflegeexpertinnen oder -experten mit Masterabschluss (=Advanced Practice Nurse APN) gerade mal 8,4 Prozent in einer Langzeitpflegeinstitution und 6,6 Prozent in Spitexbetrieben. Die Literatur zeige indes, so die Advacare-­ Geschäftsführerin, je höher die Zahl der qualifizierten Pflegestunden ist, umso niedriger sind Spitaleinweisungen, Sterblichkeit oder Delir. Und schnell war dann die Idee geboren, ein mobiles Pflegeexpertise-Team zu gründen. «Eine Pflegeexpertin oder ein Pflegeexperte kann mehrere Betriebe betreuen», so Suleika Kummer. «Und ein Team von mehreren Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten kann diese Betriebe in vielen verschiedenen Pflegethemen professionell unterstützen», führt sie den «Multiplikationsgedanken» weiter aus. Zudem kann jeder Betrieb von den Erfahrungen andere Betriebe profitieren, die das Pflegeexpertise-Team ebenfalls begleitet. «Auf diese Weise haben die Leistungserbringer einen geringen Entwicklungsaufwand, sie können grosse Teile von Konzepten übernehmen und ihre Ressourcen damit in die Implementierung investieren», sagt sie – und fügt überzeugt bei: «Vernetzung ermöglicht eine hohe Effizienz. Wenn wir in der Langzeitpflege die Qualität entwickeln und stabilisieren wollen, schaffen wir das nur gemeinsam.» Damit die Betriebe ihre Pflegequalität nachhaltig und stetig weiterentwickeln können, setzt das Geschäftsmodell von Advacare nicht auf Mandate, sondern auf Suleika Kummer ist Gründerin und Geschäftsführerin von Advacare, dem ersten mobilen Pflegeexpertise-Dienst der Schweiz. Foto: Marco Zanoni

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ARTISET 06 I 2023 9 Mitgliedschaften. Das heisst: Die Leistungserbringer unterzeichnen einen unbefristeten Vertrag und bezahlen dafür einen moderaten, nach den Bettenzahl berechneten monatlichen Betrag. Damit erhalten sie eine Pflegeexpertin oder einen Pflegeexperten als Hauptansprechperson zugeteilt. Diese/dieser macht eine Bedarfsanalyse, erarbeitet einen umfangreichen Empfehlungskatalog und extrahiert daraus drei bis vier Priorisierungen, «die mit einem vertretbaren Aufwand einen grösstmöglichen Nutzen generieren». Im Mitgliederbeitrag eingeschlossen sind eine Reihe von Dienstleistungen – zusätzliche Stunden werden nach Aufwand berechnet. Mitgliedschaften ermöglichen es, so Kummer, fortlaufend Massnahmen umzusetzen, deren Wirkung zu evaluieren und gemeinsam mit den Verantwortlichen zu prüfen, ob ein echter Mehrwert resultiert. Erfolg stellt sich nicht sofort ein Eine bestechende Geschäftsidee, die es in dieser Form noch nirgends gibt, weder in der Schweiz noch anderswo. Für die Ausarbeitung des Businessmodells erhielt und erhält Suleika Kummer – neben ihrem Mann – Unterstützung von der Berner Organisation Be-advanced AG, die Start-ups mit Innovationspotenzial beratend zur Seite steht. «Wir alle waren überzeugt: Das wird einschlagen.» Der Erfolg stellte sich dann aber nicht so schnell ein wie erhofft. «Die erste Zeit war sehr hart», bekennt sie. Zum einen waren die Institutionen von der Coronapandemie absorbiert. Zum anderen sei auch einige Überzeugungsarbeit notwendig, um zu zeigen, dass die Leistungserbringer von einem verbesserten Zugang zur Pflegeexpertise profitieren können. Bis Mitte letztes Jahr waren Suleika Kummer und eine Kollegin, die Institutionen als Bildungsverantwortliche unterstützt, die einzigen Mitarbeitenden von Advacare. Seit August 2022 fasst das junge Unternehmen Fuss. Mittlerweile besteht das Team aus insgesamt zwölf Personen, sechs Pflegeexpertinnen und einem Pflegeexperten, zwei klinischen Fachexpertinnen, einer mobilen Bildungsexpertin, einem für die Fachbibliothek zuständigen Lektor sowie dem Mann von Suleika Kummer, der das Marketing und die IT verantwortet. Die Mitarbeitenden haben alle Teilzeitpensen. «Die Möglichkeit der Teilzeitarbeit ist für die Mitarbeitenden attraktiv.» Auf gutes Echo stosse zudem das Prinzip der Selbstorganisation und der fachliche Austausch innerhalb des Teams, wodurch die Weiterentwicklung jeder einzelnen Fachperson gefördert wird. «Trotz dem Fachkräftemangel bekommen wir Spontanbewerbungen», freut sich Kummer. Das Advacare-Team begleitet derzeit insgesamt 25 Kundinnen und Kunden, davon zehn im Rahmen einer Mitgliedschaft, nämlich drei Spitexorganisationen sowie sieben Pflegeheime. Die Kundinnen und Kunden befinden sich in fünf Kantonen der Deutschschweiz. «Unser Ziel ist es, schweizweit tätig zu sein.» Neben der Langzeitpflege sieht Suleika Kummer auch im Behindertenbereich einen grossen Bedarf. «Wir möchten auch diesen Versorgungsbereich sukzessive in unsere Dienstleistungen integrieren.» Fachexpertise an der Basis aufbauen Angesprochen auf ihre Vision, meint die Advacare-­ Geschäftsführerin: «Jeder Betrieb in der Schweiz sollte an Pflegeexpertise angeschlossen sein.» Damit ist aber nicht gemeint, dass Advacare dabei die zentrale Rolle spielt, auch wenn Suleika Kummer von ihrer Geschäftsidee überzeugt und am weiterenWachstum ihres Unternehmens interessiert ist. «Mit unseren Dienstleistungen möchten wir die Institutionen und Pflegenden nicht an uns binden. Wichtig ist uns vielmehr, die Fachexpertise an der Basis aufzubauen.» Gerade im Rahmen von unbefristeten Mitgliedschaften sei es möglich, die Kompetenzen von Pflegenden sukzessive weiterzuentwickeln. «Das Personal an der Basis soll den grossen Teil zunehmend selbst übernehmen können und uns nur noch für spezifische Situationen benötigen», beschreibt sie das Ziel von Advacare und meint schmunzelnd: «Es geht eigentlich darum, uns bei den Mitgliedern überflüssig zu machen.» Derzeit konzentriert sie sich zusammen mit ihrem Team darauf, die Dienstleistungen weiter auszudifferenzieren. «Unsere Konzepte und Handlungsanweisungen haben eine wissenschaftliche Basis, sind aber auf die Praxis ausgerichtet», formuliert sie ein zentrales Leitprinzip von Advacare. Pflegequalität sei zudem nicht einfach mit der sicheren Umsetzung verschiedener Prozesse gleichzusetzen. «Im Zentrum steht immer das Wohl der Menschen.» Zu diesem Zweck erweiterte Advacare das Angebot mit der APN-Rolle: Eine Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) begleitet im Rahmen von Bedside-Teachings Pflegende bei hochkomplexen Pflegesituationen, übernimmt auch selbst Pflegesituationen und bespricht ihre Eindrücke im Rahmen von Pflegevisiten mit dem Pflegeteam. «Durch die Praxiseinsätze können wir die Lebensqualität der Bewohnenden am direktesten verbessern.» «Vernetzung ermöglicht eine hohe Effizienz. Wenn wir in der Langzeitpflege die Qualität entwickeln und stabilisieren wollen, schaffen wir das nur gemeinsam.» Suleika Kummer, Gründerin von Advacare Im Fokus

10 ARTISET 06 I 2023 Im Fokus Soziale Innovation betrifft sämtliche Lebensbereiche. In der Sozialen Arbeit, erklärt Anne Parpan-Blaser*, geht es um neuartige Konzepte, Programme, Methoden, Organisations- und Finanzierungsformen, «welche die Soziale Arbeit grundlegend verändern und den Klientinnen und Klienten einen Mehrwert bringen». Interview: Claudia Weiss «Eine grundlegende und nachhaltige und dauerhafte Verbesserung» Frau Parpan, soziale Innovationen betreffen sämtliche Bereiche unseres Alltags von Mobilität über Wohnen bis Arbeiten. Beispiele sind Car Sharing, Generationenwohnen, Repair Café oder Urban Gardening. Was aber können wir uns unter «Innovationen in der Sozialen Arbeit» vorstellen? Anne Parpan-Blaser: Während es bei sozialen Innovationen imAllgemeinen um fundamentale Veränderungen des gesellschaftlichen Handelns und Zusammenlebens geht, kann man hinsichtlich Sozialer Arbeit zwischen Innovationen in der Sozialen Arbeit und durch die Soziale Arbeit unterscheiden. Während es bei Ersteren um Entwicklungen im Fachbereich geht, steht bei Letzteren der Einfluss auf den sozialen Wandel im Fokus. In beiden Fällen können verschiedene fachliche und gesellschaftliche Ebenen unterschieden werden. Von welchen Ebenen reden wir? Auf einer ersten Ebene finden wir Programme, Methoden und Konzepte, die sehr nah beim konkreten Handeln sind. Ein Beispiel ist die Krisenintervention «Speckdrum» für Menschen mit Autismus, ein niederschwelliges und bedürfnisorientiertes Angebot für Betroffene und Angehörige. Auf einer mittleren Ebene geht es um die soziale Versorgung in einem Praxisfeld – beispielsweise im Kindesschutz – oder im regionalen Kontext, beispielsweise die Vernetzung von Diensten rund um medizinische Versorgung und Spitex. Auf einer übergeordneten Ebene sind es dann grosse sozialpolitischeThemen wie Alterssicherung oder die Drogenpolitik des Bundes. Es geht also um grosse Politik und um kleine Projekte. Insgesamt ist es nicht einfach, soziale Innovation einzugrenzen… Ja, sie umfasst tatsächlich ein sehr breites Gebiet. Und dann kann mit sozialer Innovation erst noch entweder ein Prozess, ein als neuartig zu bewertendes Entwicklungsergebnis oder die Art, wie wir ein Thema oder ein Problem angehen, gemeint sein. Das klingt sehr komplex! Wichtig ist: Eine gute Idee ist noch keine Innovation. Das wird sie erst, wenn sie umgesetzt wird und die Praxis grundlegend und umfassend und dauerhaft verändert. Genau das macht es aber schwierig: Genau genommen kann man nämlich erst imNachhinein feststellen, ob sich etwas wirklich Wichtiges verändert hat, also und ob es sich daher um eine «echte» Innovation handelt. Es bietet sich deshalb an, vom Innovationsgrad zu sprechen: Etwas kann mehr oder weniger innovativ sein. Im Vordergrund steht für mich ohnehin, dass gestützt auf bestes Wissen

ARTISET 06 I 2023 11 und Gewissen eine Verbesserung der Praxis angestrebt wird – ob dies dann in eine Innovation mündet, spielt eine zweitrangige Rolle. Wie sieht eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung aus? Im besten Fall kann eine soziale Innovation auch die Entstehungsbedingungen für ein Problem verändern. Ich denke da beispielsweise an gemeinschaftliche Wohnformen im Alter wie die Genossenschaft Zusammen_h_alt in Winterthur: Entstanden ist eine genossenschaftliche Wohnform, die Tätigsein und Wohnen im Übergang vom agilen zum fragilen Alter verbindet. Bündeln der – nachlassenden – Kräfte, gemeinschaftliche Unternehmungen und Aktivitäten, Solidarität, gegenseitiges Profitieren vom reichen Erfahrungs- und Wissensschatz sind dabei Orientierungspunkte. Bei solchen Beispielen geht es nicht darum, nur zu reagieren, sondern zu transformieren. Aber das ist ein hoher Anspruch. Innovation in der Sozialen Arbeit muss sich immer an den Grundwerten der Profession orientieren und einen Mehrwert insbesondere für Klientinnen und Klienten erbringen. Lassen sich Ihre Erkenntnisse auch auf unsere drei Fachbereiche Kinder & Jugendliche, Erwachsene mit Behinderung und Alter anwenden? In allen Bereichen gab es in den letzten Jahren in der Tat Innovationen. Im Bereich Kinder und Jugendliche nimmt beispielsweise der Ansatz der Partizipation einen immer grösseren Stellenwert ein: Kinder, Jugendliche und ihre Familien werden viel stärker in die Soziale Arbeit mit einbezogen und die Konzepte – zum Beispiel für Kindeswohlabklärungen oder im stationären Bereich – entsprechend angepasst. Wie sieht das im Bereich Erwachsene mit Behinderung aus? Hier ist die UN-BRK eine sehr wichtige Treiberin für soziale Innovation: Der Inklusionsgedanke zwingt dazu, alle Dienste und Angebote durch eine völlig neue Brille anzusehen, und gibt den Menschen mit Behinderungen zunehmend mehr Mitsprachemöglichkeiten. Im Zuge dieser Bewegung entstehen neue Konzepte, beispielsweise das Modell Assistenzwohnen, aber auch Finanzierungsmodelle wie die Subjektfinanzierung. Bleibt noch der Bereich Alter… Auch dort hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Eine steigende Lebenserwartung führt dazu, dass «altern» verstärkt nicht mit «pflegebedürftig» gleichzusetzen ist. In diesem Bereich geht es heute oft um die Bildung von stützenden Netzwerken, um die Koordination und Zugänglichkeit von Diensten, um eine Gemeinwesenorientierung, um Caring Communities. Man könnte auch sagen, dass traditionelle Formen gemeinschaftlichen Lebens unter veränderten Vorzeichen wieder innovationsträchtig werden. Daneben ergeben sich durch die demografische Entwicklung auch neue Fragen, beispielsweise zuThemen wie Anne Parpan-Blaser forscht seit 15 Jahren zu Innovationen in der Sozialen Arbeit. «Im besten Fall kann eine soziale Innovation auch die Entstehungsbedingungen für ein Problem verändern», sagt sie. Foto: Privat «Eine gute Idee ist noch keine Innovation. Das wird sie erst, wenn sie umgesetzt wird und die Praxis grundlegend und umfassend und dauerhaft verändert.» Anne Parpan-Blaser

12 ARTISET 06 I 2023 Alter und Behinderung oder Alter und Drogenabhängigkeit. Sie forschen seit 15 Jahren zu Innovation in der Sozialen Arbeit. Hat Sie ein Ergebnis überrascht? Nicht eigentlich überrascht. Aber es machte mich betroffen zu beobachten, wie ein Innovationsprozess, in den viel Geld investiert wurde, zu einem sehr bescheidenen Ergebnis führt. Nicht weil keine gute Idee darin steckte oder weil das Fachwissen nicht ausreicht, sondern weil die falschen Personen zusammenarbeiteten, keine ausreichende Durchschlagskraft gesucht wurde oder Vorgaben einer Verwaltung wichtige Schritte blockierten. Braucht es deshalb auch ein Förderprogramm zur Weiterentwicklung von Dienstleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich? Ja, um Entwicklung im Gesundheits- und Sozialbereich voranzutreiben, braucht es Geld. Es muss investiert werden, es braucht «Risikokapital», denn zu entwickeln heisst auch, möglicherweise zu scheitern. Der Innovation Booster «Co-Designing Human Services» bietet eine wichtige Anschubhilfe in diesem Sinn. In den Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens und in der Zusammenarbeit mit Nutzerinnen und Nutzern sozialer Dienste gibt es ein grosses Potenzial für Entwicklung, und es ist schade, wenn diese keinen Ort hat oder nicht zum Fliegen kommt. Hilft es, solches Wissen auch in die Ausbildung junger Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen einzubringen? Unbedingt. Kompetenz zur Innovation ist wichtig, und die Frage lautet: Wie kann ich mich aus meiner Arbeit heraus aktiv an der Entwicklung der Sozialen Arbeit beteiligen? Es geht hier um die Mitarbeit in Projekten, aber auch darum, die Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis fruchtbar zu machen, was insbesondere im Masterstudium vermittelt wird. Es geht darum, dass Soziale Arbeit das Wissen aus Forschung, Praxis und den Erfahrungen betroffener Personen nutzt, um zu gestalten. Es ist sehr wichtig, dass man einen guten Boden schafft für neuartige Entwicklungen: Dass man eine gute Idee gut einfädelt, rechtzeitig kommuniziert und überlegt, wer das Projekt unterstützen, aber auch, wer es kippen könnte. Welche Probleme werden uns künftig besonders beschäftigen? Soziale Arbeit befasst sich seit je mit sozialen Ungleichheiten. Auch künftig werden uns Fragen rund um Armut, Zugang zu Arbeit und Erwerbstätigkeit sowie angemessene soziale Sicherung beschäftigen. Ein wichtiger Entwicklungsbedarf ist bereits zur Sprache gekommen: Es sind die gesellschaftlichen Veränderungen und sozialen Probleme, die sich aufgrund einer alternden Gesellschaft ergeben. Ein anderes Thema ist die Koordination bereits bestehender spezialisierter Dienste im Sozial- und Gesundheitswesen. Hier geht es um Fragen rund um integrierte Dienste und Leistungen. Schliesslich möchte ich noch erwähnen, dass sich gewisse Entwicklungsbedarfe und -möglichkeiten auch aufgrund neuer Forschungserkenntnisse ergeben. Sie erlauben es, soziale Fragestellungen genauer und wirksamer anzugehen. Was möchten Sie Fachleuten aus dem sozialen Bereich mitgeben? Schafft euch Platz, denkt mutig, bündelt eure Kräfte! Ressourcen zusammenzulegen, bedeutet auch mehr Hebelkraft bei Entwicklungen und Veränderungen. Dabei muss man das Rad nicht immer neu erfinden; man kann Innovatives auch übernehmen, anpassen und voneinander lernen. Fachpersonen, Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Diensten, Bürgerinnen und Bürger und Forschende sollten sich zusammentun und gemeinsam herausfinden, was nötig und möglich ist. In der Sozialen Arbeit steckt noch viel Potenzial für Innovationen. * Prof. Dr. Anne Parpan-Blaser ist Dozentin am Institut Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Sie engagiert sich im Management Board des Innovation Booster des Schweizerischen Vereins zur Förderung der sozialen Innovation. ➞ zusammenhalt.ch ➞ innovationsociale.ch «In den Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens geschieht Entwicklung, und es ist schade, wenn diese nicht zum Fliegen kommt.»

ARTISET 06 I 2023 13 Im Fokus Am Ufer des Flusses Asse, nur fünf Minuten vom Bahnhof Nyon entfernt, erstreckt sich die Fondation Esp’Asse über eine Fläche von 14 000 Quadratmetern. Seit mehr als zwanzig Jahren stellt die Stiftung Selbsthilfe- und Eingliederungsorganisationen sowie Kunstschaffenden bezahlbare Flächen zur Verfügung. So findet man ein paar Meter neben dem Eingang der Hilfsorganisation Caritas im «Künstlergässchen» Maler und Fotografen. Die mit Glas überdachten, lichtdurchfluteten Pavillons sind der ideale Ort für Kreativität. In einem Gebäude ein Stück weiter oben belegt die Fondation Profa, die sich im Bereich der sexuellen Gesundheit engagiert, die obersten Stockwerke, während in den unteren Etagen Künstlerinnen und Künstler eingemietet sind. Unterhalb der Künstlergasse ist das leise Murmeln der Asse zu hören. Direkt oberhalb des Flussufers vermutet man ungenutzte Räumlichkeiten mit grossem Potenzial. «Es gibt noch viel zu tun», sagt Fabienne Freymond Cantone mit einem Lächeln im Gesicht. Die Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse koordiniert das Bauprojekt des Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität (MISS). «Der Ort ist einzigartig und birgt unendlich viele Möglichkeiten.» Weiter hinten entsteht in einem freien Lokal schon bald ein selbstverwaltetes Café. In den Räumlichkeiten auf zwei Stockwerken mit Sicht auf eine grosse Grünfläche kann man sich das gemütliche Ambiente der zukünftigen Buvette gut vorstellen. «Dies wird ein für alle zugänglicher Ausstellungsraum und ein Ort der Kulturvermittlung, um den Industriestandort aufzuwerten», erklärt unsere Gesprächspartnerin. Das Café markiert einen Projektmeilenstein, denn es steht für den Anfang des Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität. Als Inbegriff eines Ortes der Begegnung bringt das Café Menschen zusammen und fördert neue Projekte. Im daran angrenzenden Lokal wird sich die Reparaturwerkstatt Ecrou einrichten. «In meinen Augen verkörpert der Standort als Ganzes bereits das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität. Die Erbauer dieser Räumlichkeiten schufen soziale Innovation, ohne es zu wissen.» Den sozialen Zusammenhalt fördern Der visionäre Pädagoge Jean-Michel Rey eröffnete 1996 im KantonWaadt eine erste Einrichtung, um arbeitslosen, aber arbeitsmarktfähigen Jugendlichen wieder auf die Beine zu helfen, die sogenannten Motivationssemester. Dieser erste Versuch war ein Erfolg. Schon bald war mehr Raum für feste Kurse und für die Aufnahme von weiteren Jugendlichen nötig. So wurde die Fondation Esp’Asse gegründet, um ein Industrieareal zu kaufen. Den Erwerb des Standorts Route de l’Etraz in Nyon finanzierten die UBS und die Loterie Romande. Der Verein Pro-Jet war geboren und nahm Fahrt auf. ProJet belegte eines der Industriegebäude, doch das riesige Solidarität dank neuer Architektur Die im Bereich Selbsthilfe und Eingliederung tätige Fondation Esp’Asse in Nyon VD plant für das Jahr 2027 den Bau eines Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität. Blick auf ein einzigartiges, mutiges, dynamisches Konzept, das mittels einer bestimmten räumlichen Gestaltung neue Unterstützungsmodelle ermöglichen will. Das Projekt wird von Innosuisse gefördert. Von Anne Vallelian

14 ARTISET 06 I 2023 «Aufgrund des kollektiven Wissens konnten wir die Richtlinien des künftigen Hauses der sozialen Innovationen und Solidarität erarbeiten.» Fabienne Freymond Cantone, Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse Grundstück lud zur Unterbringung weiterer Mieter ein. So bezogen Organisationen und Kunstschaffende ihr Quartier, und der Branchenmix entstand von selbst. Gleich neben Pro-Jet befindet sich auch ein grosser Parkplatz. In vier Jahren wird dort das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität entstehen. Wie kam es zu diesem Projekt? «Einerseits natürlich durch das Bebauungspotenzial des Parkplatzes. Das Bauvorhaben wurde aber auch durch die geplante Passerelle zwischen der Strasse und der Schule hinter der Asse auf der Stadtseite begünstigt», sagt die Geschäftsführerin der Fondation Esp’Asse. Die Passerelle beruht auf einer Initiative der Stadt Nyon und wird gemäss ihrer Vision auf einem noch zu bauenden Gebäude aufliegen. Durch das Vermieten ihrer Flächen kann die Fondation Esp’Asse die Darlehen zurückzahlen und die Kosten decken. Gewinn erzielt sie aber keinen. Für ein Gelingen des Projekts braucht es deshalb Partner. «Die Stadt Nyon hat uns ihre Unterstützung zugesagt, jedoch geknüpft an die Bedingung, dass der zukünftige Bau im Zeichen der Innovation steht und weiterhin den sozialen Zusammenhalt fördert», präzisiert die Geschäftsführerin. Die Plattform Lives Social Innovation der Westschweizer Fachhochschule HES-SO und die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, Innosuisse, zählen ebenfalls zu ihren Partnern. Ein gemeinschaftlicher Prozess Mit der Initialzahlung von Innosuisse im Rahmen des Innovation Boosters «Co-Designing Human Services» (siehe Seite 16) konnte Esp’Asse eine Firma entschädigen, welche die Stiftung in den verschiedenen Phasen eines innovativen Gemeinschaftsvorhabens begleitete. In der ersten Phase trafen sich die verschiedenen Mieterinnen und Mieter. In einem zweiten Schritt wurden Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen eingeladen, darunter Seniorinnen und Senioren, Obdachlose oder Langzeitarbeitslose. Während dreier Tage diskutierten rund hundert Fachpersonen aus dem Hochschulbereich, dem Sozialwesen, aus Kultur, Wissenschaft und Politik, Leistungsbeziehende unterschiedlicher Art sowie Mieterinnen und Mieter inWorkshops über das Projekt.«Die Inspiration war hoch und dank des kollektiven Wissens konnten wir die Richtlinien des künftigen Hauses der sozialen Innovationen erarbeiten», freut sich die Geschäftsführerin. Das Haus soll ein Restaurant mit einer Gemeinschaftsküche, solidarische Unternehmen, Coworking Spaces und Gemeinschaftsbüros beherbergen. Auch Aussenstehende sollen dazugehören. Das Gebäude soll allen offen stehen. «Die vor Ort schon jetzt vorhandene soziale Durchmischung muss auch im Haus der sozialen Innovationen gelebt werden», unterstreicht Fabienne Freymond Cantone. Die Passerelle soll eine direkte Verbindung zum zukünftigen Bau und den Lokalitäten schaffen, die durch regelmässige Veranstaltungen von einer hohen Dynamik geprägt sein werden. «Unser Ziel ist die Formalisierung der sozialen Innovation, weshalb die Hochschulen auch ihren Platz haben müssen.» Insgesamt entstehen auf dem Parkplatz zwei Gebäude. Das zweite Haus ist als Mietobjekt vorgesehen, auch wenn das Konzept dafür noch erarbeitet werden muss. Eine neue Art zu bauen entwickeln Zurzeit arbeitet Esp’Asse mit verschiedenen Hochschulen zusammen: der Haute école de travail social et de la santé In partizipativen Workshops erarbeiteten Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen die Richtlinien der künftigen Gemeinschaft. Foto: Esp’Asse Im Fokus

ARTISET 06 I 2023 15 Lausanne, der Haute école de travail social Genf sowie der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg. Das Ziel ist die gemeinsame Arbeit an einem innovativen Ansatz zur Entwicklung des Architekturprojekts MISS. Diese Zusammenarbeit mit den Westschweizer Hochschulen ist ein weiterer Meilenstein des Gemeinschaftsvorhabens. Die HES-SO und die Fondation Esp‘Asse haben von Innosuisse über die Förderung im Rahmen des Innovation Boosters hinaus einen zusätzlichen Kredit erhalten. Damit kann eine Forscherin entschädigt werden, die verschiedene neue Lösungsstrategien für Planung und Bau des zukünftigen MISS-Gebäudes und des Mietobjekts untersucht. «Im Moment wissen wir noch nicht genau, in welche Richtung es geht, da sie noch daran arbeitet», erklärt Fabienne Freymond Cantone. «Das Gemeinschaftsvorhaben werden wir aber auf jeden Fall weiterverfolgen, ohne jedoch das Ziel aus den Augen zu verlieren.» Ein weiterer Schlüsselfaktor ist der Architekturwettbewerb. Für die innovative Leistungsbeschreibung des Wettbewerbs zählt die Fondation Esp’Asse auf die Unterstützung der Forscherin. «Die Architektur muss mit den Normen brechen», unterstreicht die Geschäftsführerin. «Die soziale Innovation muss in erster Linie in der Bauweise liegen. Wir möchten mit unseren Partnern zusätzlich eine andere Bauart entwickeln.» Aufgrund der besonderen Gestaltung der Räumlichkeiten sollen – gemeinsam mit Mietendenden und Leistungsbeziehenden – neue, solidarische Unterstützungsmodelle möglich werden. Soziale Durchmischung als tragendes Konzept Obwohl die Geschichte in Nyon beginnt, dürfte das Haus der sozialen Innovationen und Solidarität über die Stadt- und Kantonsgrenzen hinaus Bekanntheit erlangen. «Das Projekt hat eine Vorbildfunktion», bekräftigt die Geschäftsführerin. «Wir wollen zeigen, dass das Konzept der sozialen Durchmischung auf längere Sicht nachhaltig, tragbar und übertragbar ist. Das ist sehr ambitioniert, aber wir glauben daran. Für die Entwicklung von richtungsweisenden Modellen haben wir Forschende beigezogen.» Das Ziel der Fondation Esp’Asse ist das Wiederherstellen der Interdisziplinarität im zukünftigen Haus der sozialen Innovationen und Solidarität. «Die soziale Innovation steht in direkter Verbindung zur Interdisziplinarität, aber diese Kenntnis ist seit sechzig Jahren in Vergessenheit geraten.» Fabienne Freymond Cantone glaubt an das Raumplanungsprojekt und die Kooperation mit Kulturschaffenden, dem Sozialbereich sowie der Wirtschaft und der Politik. «Das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Bereichen wird uns in Sozialprojekten einen Schritt weiterbringen.» Luftaufnahme der aktuellen Anlage der Fondation Esp’Asse. Das künftige Haus der sozialen Innovationen und Solidarität wird bis 2027 über dem Parkplatz errichtet werden (im unteren Teil des Bildes). Foto: Esp’Asse

16 ARTISET 06 I 2023 Im Fokus Aktuell Mit Netzwerken und Partizipation Innovationen anstossen a Der Schweizerische Verein zur Förderung der sozialen Innovation will das Umfeld schaffen für neue Ansätze und Modelle in der Pflege, Betreuung, Beratung und Begleitung vulnerabler Gruppen. Neben politischen Bemühungen geht es darum, die Beteiligten zu vernetzen und zu einer innovativen Zusammenarbeit anzuregen. Zum Beispiel im Rahmen des Innovation Boosters «Co-Designing Human Services». Von Elisabeth Seifert

ARTISET 06 I 2023 17 Die Anforderungen an Wirtschaft und Gesellschaft ändern sich laufend. Neue Bedürfnisse erfordern eine stetige Anpassungsleistung von Unternehmen, aber auch von Dienstleistungserbringern im Sozial- und Gesundheitsbereich. Gefragt ist eine hohe innovative Kraft, um betriebliche Strukturen und Angebote entsprechend weiterzuentwickeln. Für Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen direkt an ihre Kundinnen und Kunden verkaufen, ist es längst zur selbstverständlichen Notwendigkeit geworden, immer wieder neue oder verbesserte Angebote zu entwickeln. Namentlich in grossen Unternehmen gibt es zu diesem Zweck gut dotierte Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Auf die Bedürfnisse dieser Wirtschaftszweige zugeschnitten, bietet zudem eine Reihe von Stiftungen und Organisationen, innovativen KMU oder engagierten Jungunternehmerinnen und Jungunternehmern praktische und finanzielle Unterstützung an. In den Organisationen des Sozial- und Gesundheitsbereichs, die Menschen mit Unterstützungsbedarf betreuen und begleiten, wäre die Bedeutung innovativer Ideen mindestens ebenso gross. Hier ist Innovation allerdings noch weniger ein Thema. Dies konstatieren Agnès Fritze, Direktorin der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, und Daniel Höchli, Geschäftsführer der Föderation Artiset. Um Innovationen in diesem Bereich – und zwar in einem sehr umfassenden Sinn – anzustossen, ist denn auch vor rund zwei Jahren der Schweizerische Verein zur Förderung der sozialen Innovation aus der Taufe gehoben worden. Präsidiert wird dieser von Daniel Höchli, als Vizepräsidentin amtet Agnès Fritze. Dass weder bei den Leistungserbringern noch bei den Finanzierern eine gefestigte Praxis dafür besteht, systematisch Innovation voranzubringen und zu entwickeln, führt Fritze auf den «Quasi-Markt» im Sozial- und Gesundheitsbereich zurück. So folgen die mittels eng definierter Leistungsaufträge «Es kann sich um die Weiterentwicklung bestehender Dienstleistungen handeln, die Entwicklung neuer Methoden und Prozesse sowie deren Verbreitung.» Daniel Höchli, Geschäftsführer der Föderation Artiset geführten und zu einem grossen Teil öffentlich finanzierten Organisationen nicht der Marktlogik von Angebot und Nachfrage. Die Finanzierer, jene also, welche die Leistung bezahlen, sind nicht identisch mit jenen, welche die Leistung beziehen. Öffentliche Gelder für neue Angebote und Dienstleistungen fliessen immer erst, wenn ein öffentlich anerkannter, normativ festgestellter Bedarf besteht, der auf die öffentliche politische Agenda kommt. Damit aber agieren die Betriebe in einem wenig innovationsfördernden Umfeld. Innovationshemmende Regulierungen Dazu komme, so Daniel Höchli, dass die Angebote der Leistungserbringer in der Sozial- und Gesundheitsbranche durch zahlreiche Regulierungen gesteuert werden, wobei Bund, Kantone und Gemeinden jeweils ihre klar definierten Zuständigkeitsbereiche haben. Um unter diesen Voraussetzungen den Sozial- und Gesundheitsbereich mit innovativen Ideen voranbringen zu können, brauche es besondere Anstrengungen sowie die Zusammenarbeit aller Beteiligten: der Leistungserbringer, der Finanzierer respektive Behörden, der Leistungsbeziehenden sowie der Hochschulen. Der Verein zur Förderung der sozialen Innovation hat denn auch den Anspruch, Netzwerke zu bilden zwischen Organisationen der Forschung, des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der Betroffenen respektive der sie vertretenden Organisationen. Der zurzeit 15 Mitgliederorganisationen zählende Verein bildet diese unterschiedlichen Bereiche respektive Perspektiven ab. Ziel des Vereins ist es, innerhalb dieser Netzwerke und mit Hilfe partizipativer Methoden neue Ansätze und Modelle in der Pflege, Betreuung, Beratung und Begleitung vulnerabler Gruppen zu finden. Wie Höchli und Fritze betonen, steht dabei nicht die Förderung von Start-ups respektive neuer Geschäftsmodelle im Vordergrund. «Es muss nicht zwingend etwas Neues sein», meint Höchli. «Es kann sich um die Weiterentwicklung bestehender Dienstleistungen handeln, die Entwicklung neuer Methoden und Prozesse sowie deren Verbreitung.» Aufmerksam machen wolle man zudem auch auf innovationshemmende Rahmenbedingungen. Und: Da die Betriebe und Organisationen aufgrund der eng an die Leistung gebundenen Finanzierung in der Regel keine Rückstellungen für Innovationen machen

18 ARTISET 06 I 2023 In der ganzen Schweiz Plattformlift STU2 Homelift www.stannah.ch sales@stannah.ch 044 512 0310 100% MOBIL ZU HAUSE Dank ihres diskreten und modernen Designs fügen sie sich elegant in jede Umgebung ein. Kompakt und schnell zu installieren, sind sie die ideale Lösung für Menschen im Rollstuhl. Plattformen und Kabinen erhältlich in verschiedenen Grössen Anzeige können, bestehe eine wichtige Aufgabe des Vereins darin, finanzielle Mittel zu generieren. «Unsere Vision besteht darin, dass soziale Innovation in Gesellschaft und Politik als relevant und notwendig erachtet und breit akzeptiert wird», unterstreicht Agnès Fritze. Dazu gehöre auch, dass es in der Schweiz «spezifische Ressourcen und Fördermöglichkeiten für soziale Innovationen gibt, mit denen breit und dauerhaft Wirkung entfaltet werden kann». Ambitionierte Ziele, die der Verein in den nächsten Jahren sukzessive erreichen möchte und wozu er den Kontakt zur Politik pflegt. Um die politische Stimmungslage in Erfahrung zu bringen, hat Ständerätin Isabelle Chassot (Die Mitte, FR) letzten Herbst die Interpellation «Gezielte Förderung sozialer Innovation. Ein neuer Ansatz ist notwendig» eingereicht. Basierend auf der Antwort des Bundesrats erhofft sich Fritze unter anderem, dass soziale Innovationen in der nächsten Botschaft des SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) Eingang finden werden. «Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, hier weiter aktiv zu sein und Netzwerke aufzubauen.» Zusammenarbeit geschieht nicht spontan Das zentrale Tätigkeitsfeld des Vereins und seiner Mitgliederorganisationen besteht derzeit im Management und der Mitfinanzierung des auf vier Jahre ausgelegten Innovation Boosters «Co-Designing Human Services». Mit dem Instrument Innovation Booster möchte Innosuisse, die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, «wissenschaftsbasierte und nachhaltige radikale Innovation» fördern, wie es auf der Website heisst. «Radikal» seien die Innovationen dann, wenn diese Nutzerprobleme auf neuartige Weise zu lösen versuchen. Erreicht werden soll dies durch ein tieferes Verständnis von Problemen mittels Wissenstransfers, der Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure sowie agiler Lernmethoden. «Co-Designing Human Services» ist derzeit einer von insgesamt 17 Innovation Boostern. Während die Themenfelder bislang vor allem im technologischen Umfeld angesiedelt sind, öffnet sich das Förderinstrument neu sozialen Innovationen. Fritze: «Mit unserer Bewerbung für den Booster wollten und wollen wir herausfinden, ob und inwiefern sich der Booster für diesen Bereich Im Fokus

ARTISET 06 I 2023 19 eignet.» Mit «Human Services» habe der Verein den Booster thematisch bewusst breit gefasst, engere Fragestellungen haben dann die vier Jahresthemen. Der erste Jahreszyklus, der Mitte März 2023 mit der Präsentation der Projektideen der acht über das ganze Jahr begleiteten Teams abgeschlossen wurde, suchte innovative Ideen rund um das Thema «flexible Wohn- und Unterstützungsformen für alternde Menschen». Der Jahreszyklus 2023 ist dem Thema «integrierte Dienste und Leistungen im Sozial- und Gesundheitswesen» gewidmet. Den Perspektivenwechsel ermöglichen Während die Innovationsteams gemäss den Vorgaben von Innosuisse mindestens aus einem Forschungs- und einem Umsetzungspartner bestehen müssen, hat der Verein entschieden, dass diese aus Forschenden, Leistungserbringenden und Betroffenen oder den sie vertretenden Organisationen zusammengesetzt sind. Damit erklärt sich auch das «Co-» im Booster-Titel. Höchli: «Nur mit dem Einbezug der Betroffenen stellen wir sicher, dass die erarbeiteten Ideen auch ihnen etwas bringen. Diese Zusammenarbeit passiert nicht spontan, man muss sie anstossen, und man muss sie auch lernen.» 27 Innovationsteams reichten im Frühling 2022 ihre Projektideen ein, 19 Ideen wurden für eine erste Förderung ausgewählt. «Begleitet durch ein Coaching-Team entwickelten sie dann über mehrere Wochen hinweg ihre Ideen weiter», sagt Pascal Maeder von der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO). Er koordiniert den Booster Co-Designing Human Services. «In diesen Diskussionen und Recherchen geht es wesentlich darum, innerhalb der Teams den Perspektivenwechsel zu ermöglichen.» Ab Herbst 2022 qualifizierten sich acht Teams für einen zweiten Förderschritt, um ihre Lösungsansätze und Hypothesen zu testen. Dies geschehe, so Maeder, etwa im Rahmen von Workshops mit Rollenspielen, bei denen die verschiedenen Perspektive eingebunden werden. Von den acht auf diese Weise ausgearbeiteten Projektideen, die Fördergelder von je 15 000 Franken erhielten, lässt sich gemäss Maeder das Projekt «Esp’Asse» als «radikale» Innovation bezeichnen (siehe Seite 13). Im Raum Nyon soll getestet werden, welche Gestaltung der Räumlichkeiten es braucht, um etwa gemeinsam mit Seniorinnen und Senioren, Obdachlosen oder Langzeitarbeitslosen neue Unterstützungsmodelle zu entwickeln. Um einen solchen Prozess zu ermöglichen, gilt es zudem herauszufinden, wie die vulnerablen Gruppen dabei begleitet werden müssen. Bei den übrigen Projektideen handle es sich um die Weiterentwicklung bestehender Dienstleistungen. Maeder nennt etwa das Tessiner Projekt «Modello ABAD». Hier geht es darum, dass Spitexorganisationen die ehrenamtliche Arbeit der Angehörigen koordinieren und mit Coachings unterstützen, um sie somit zu entlasten. Eine innovative Weiterentwicklung sei auch das Basler Projekt «Demenz und Migration», bei dem Mitarbeitende aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich sowie Mitglieder von Migrationsvereinen Fachwissen für die Beratung und Unterstützung von Demenzbetroffenen und Angehörigen mit Migrationshintergrund erhalten. Der Einbezug der Betroffenen ist eine Herausforderung Der Verein zur Förderung der sozialen Innovation und Innosuisse werden im Verlauf der nächsten Monate eine Zwischenevaluation vornehmen, um zu prüfen, ob der Innovation Booster das richtige Instrument ist, um soziale Innovationen voranzubringen. «Es ist sehr anspruchsvoll, in einem offenen Prozess unter Einbezug verschiedener Akteure innovative Projektideen zu entwickeln», beobachtet Agnès Fritze. Um solche für den Sozial- und Gesundheitsbereich noch neuen Innovationsprozesse voranzubringen, sei ein Jahr zu kurz, findet sie. Eine grosse Herausforderung bedeute namentlich der Einbezug von Betroffenenvertretungen. Um unter solchen Voraussetzungen voranzukommen, seien die Teams auf weitere Unterstützung angewiesen. Die dafür vonseiten des Vereins respektive der Mitgliederorganisationen benötigten Ressourcen seien indes sehr hoch, zumal die Organisationen über kein Förderbudget verfügen. Im Rahmen des soeben angelaufenen zweiten Jahreszyklus habe man gewisse Verbesserungen im Ablauf vorgenommen. Wie auch immer es mit dem Innovation Booster weitergehen werde, «es ist guter Versuch» – so das Fazit von Vereinspräsident Daniel Höchli. «Unsere Vision besteht darin, dass soziale Innovation in Gesellschaft und Politik als relevant und notwendig erachtet wird.» Agnès Fritze, Direktorin der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

20 ARTISET 06 I 2023 Im Fokus Erzählen mit Bildern

ARTISET 06 I 2023 21 Um sich mit Piktogrammen in allen Situationen des Alltags und für alle verständlich ausdrücken zu können, hat die Fondation Clair Bois ein universelles Hilfsmittel entwickelt: den Kommunikationsfächer mit 24 Bildern. Von Anne-Marie Nicole Die Fondation Clair Bois wurde vor mehr als 45 Jahren im Kanton Genf gegründet. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit mehrfacher und komplexer Behinderung und einem hohen Grad an Pflegebedürftigkeit sowie starken motorischen, sprachlichen, kommunikativen undWahrnehmungseinschränkungen. Seit einigen Jahren besteht die Stiftung aus vier verschiedenen Zentren mit unterschiedlichen spezifischen Leistungsangeboten. Das Kinder- und Jugendzentrum bietet vorschulische und schulische Aktivitäten für Kinder und Jugendliche mit komplexer Behinderung an. Es zählt zwei Schulen und Schulheime, welche die Kinder flexibel und mit Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, die sich laufend ändern können, quasi à la carte aufnehmen. Der Standort Chambésy betreut 30 Kinder mit komplexer Behinderung von ihrer Geburt bis zum Alter von 10 Jahren. Die Kinder bauen hier ihr Wissen und ihre Kompetenzen auf und entwickeln ihre kognitiven Funktionen und sozio-affektiven Fähigkeiten unter anderem durch sprachliche Aktivitäten, das Erkunden der Umwelt und die Sozialisierung. «Wir fördern die Entfaltung und Sozialisierung der Kinder. Dies erfordert eine angepasste Schule, Begegnungen und den Kontakt mit der Umwelt. Wir fahren Ski, klettern, oder segeln. Wir leben aktive Inklusion», sagt Marc Gance, Geschäftsführer des Kinder- und Jugendzentrums. «Unser Ziel ist eine möglichst gute Teilhabe, selbst bei schweren Behinderungen mit starken Einschränkungen in der mündlichen Kommunikation», ergänzt er und beruft sich dabei auf die Grundsätze der Behindertenrechtskonvention der Uno (UN-BRK) und insbesondere auf den Zugang zu Kommunikation gemäss Artikel 2: «Sprachen, Textdarstellung, Brailleschrift, taktile Kommunikation, Grossdruck, leicht zugängliches Multimedia sowie schriftliche, auditive, in einfache Sprache übersetzte, durch Vorleser zugänglich gemachte sowie ergänzende und alternative Formen und Mittel der Kommunikation, einschliesslich leicht zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologie.» Mit dem von ihr entwickelten Hilfsmittel für eine einfachere Kommunikation zwischen den Menschen mit Behinderung und ihren Begleitpersonen kann die Fondation Clair Bois fast alle Punkte abhaken. Kommunikation ermöglichen Der Kommunikationsfächer – so heisst das Hilfsmittel – ist nicht grösser als ein Handy und deutlich leichter. Er passt problemlos in die Tasche und ist so immer zur Hand. Er ist plastifiziert und darf also auch nass werden. Er öffnet sich wie ein Spiel von vierzehn Karten. Auf zwölf Karten findet man vorne und hinten Piktogramme und auf zwei Karten sind die zweimal zwölf Begriffe aufgelistet, die auf den beiden Seiten der Karten dargestellt sind, beispielsweise ja, nein, guten Tag, auf Wiedersehen, bravo, helfen, essen, zufrieden, verärgert, Angst oder Schmerzen. «Fast allen Kindern und der Mehrheit der Erwachsenen in Clair Bois ist die Kommunikation in Lautsprache verunmöglicht», erklärt Marc Gance. Infolgedessen ist es schwierig zu wissen, ob ein Kind noch Durst oder Hunger hat, ob es zur Toilette muss oder rausgehen möchte, ob es zufrieden ist oder Schmerzen hat. Für das Kind andererseits ist es schwierig zu sagen, was es will oder was es braucht. Dies kann zu Frustrationen führen. «Die Herausforderung ist deshalb, ihm die Kommunikation zu ermöglichen und die Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, beispielsweise eine Bewegung, Vokalisation, Berührung oder eben das Zeigen eines Piktogramms», führt er aus. Jean-Michel Ripoli ist Ergotherapeut. Er arbeitet seit fast 25 Jahren bei Clair Bois, zuerst mit Erwachsenen, heute mit Kindern. In all dieser Zeit hat er mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Bilder als Kommunikationsmittel verwendet. Das sticht auch sofort ins Auge, wenn man die Förderschule in Chambésy betritt: überall Piktogramme, an den Wänden, Türen, Schränken und Fensterscheiben. Sie dienen als Wegweiser für die Physiotherapie, das Schwimmbad, Sensorium, Esszimmer oder als Ankündigung des Wochenprogramms. Die langjährige Berufserfahrung kam Jean-­ Michel Ripoli bei der Entwicklung des Kommunikationsfächers – zusammen mit einer Logopädin, Fachlehrerinnen und einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Stiftung – entgegen. Nach zahlreichen Versuchen veranschaulichen die Piktogramme nun die wichtigsten und im Alltag der Kinder Auch dieses Mädchen mit einer komplexen Behinderung kann dank Piktogrammen, die teils eigens von der Fondation Clair Bois entwickelt wurden, dem Betreuer seine Bedürfnisse mitteilen Foto: amn

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