Gewalt verhindern Magazin ARTISET 1-2 2023

ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus Gewalt verhindern Ausgabe 01/02 I 2023 Der Verband macht sich stark für mehr Geld in der familienergänzenden Betreuung Eine Studie untersucht die Wirkung von Leistungspauschalen auf die Institutionen Ein Komitee fordert mehr Veranwortung von Bund und Kantonen in der Langzeitpflege

Institutionsleitung 80–100% Mit Leichtigkeit das Alter erleben. Das Altersheim Rotmonten befindet sich in der Stadt St. Gallen. Rund 55 Bewohner:innen werden mit viel Fachwissen, Engagement und Herzblut von rund 70 Mitarbeitenden betreut. Im Auftrag der Trägerschaft suchen wir auf den 1. August 2023 eine empathische und umsetzungsstarke Führungspersönlichkeit. Das sind Ihre Aufgaben Sie führen das Altersheim Rotmonten sowohl als Gastgeber:in als auch innovative und partizipative Führungsperson in die Zukunft. Gemeinsam mit dem Kader setzen Sie operative Ziele, die wirtschaftlich und qualitativ einen Gewinn darstellen. Sie fördern die Stärken Ihrer Mitarbeitenden und unterstützen die Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung. Als zielorientierte Persönlichkeit setzen Sie, im Austausch mit dem Vorstand, die neue Strategie um. Sie sind verantwortlich für die fortlaufende Modernisierung der Datenverwaltung und erhöhen somit die Prozessorientierung und Qualität von Dienstleistungen. Das bringen Sie mit • Eine tertiäre Ausbildung und einige Jahre Berufserfahrung im Gesundheitswesen • Stellen die Bewohner:innen in den Mittelpunkt Ihrer Arbeit • Denken über den Tellerrand hinaus und arbeiten vernetzt und interdisziplinär • Interesse an gerontologischen Entwicklungen und älteren Menschen • Fundierte BWL-Kenntnisse und Zahlenflair • Haben einen repräsentativen und selbstsicheren Auftritt Haben wir Ihr Interesse geweckt? Das vollständige Inserat finden Sie mit dem QRCode. Wir freuen uns auf Ihre vollständige Online-Bewerbung. Kontakt: Elise Tel, elise.tel@artiset.ch, T +41 31 385 33 63 ost.ch/wb-soziale-arbeit Weiterbilden. Weiterkommen. Soziale Arbeit Vielfältige Weiterbildungsprogramme für Fach- und Leitungspersonen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit. Nächster Online-Infoanlass: 15. März Ins_Artiset_180x130.indd 1 17.01.2023 08:47:19

ARTISET 01/02 I 2023 3 Editorial «Wir nehmen uns gegenüber Menschen mit Unterstützungsbedarf oft zu viel heraus, ohne uns dessen bewusst zu sein.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser «Gewalt verhindern» heisst unser Fokus – fast als würden wir immer wieder Gefahr laufen, Gewalt auszuüben. Dabei gehört es doch zu den urmenschlichen Bedürfnissen, für andere Menschen da zu sein, uns um ihr Wohl zu kümmern. Und gerade Sie sind in die Sozial- und Gesundheitsbranche eingestiegen, weil Sie die Sorge um Menschen unterschiedlicher Art umtreibt. Aber eben, wir kennen die bedrückenden Geschichten, vor allem von sexuellen Übergriffen an Menschen mit Behinderung oder in Obhut befindlicher Kinder. In der Gesellschaft, aber auch innerhalb von Institutionen. Übergriffe, die nicht nur in einer längst vergangenen Zeit stattgefunden haben, sondern auch noch vor gut zehn Jahren. Viele von ihnen mögen sich an den Fall H. S. erinnern. Der Berner Sozialtherapeut hatte jahrelang in verschiedenen Heimen ihm anvertraute Menschen sexuell misshandelt. Solche extremen Fälle mögen sehr selten sein. Gewalt kann aber auch auf subtile Art zum Ausdruck kommen, in Form von verbalen Attacken, Beleidigungen, Vernachlässigungen, Bevormundung im Alltag oder übermässig einengenden Schutzmassnahmen. Es gibt zahlreiche Spielarten von Grenzverletzungen, welche die Integrität, die Würde und die Rechte einer Person berühren. Der Grund für solche Grenzverletzungen gegenüber alten Menschen, gegenüber Menschen mit Behinderung und auch gegenüber Kindern und Jugendlichen mit speziellen Bedürfnissen liegt häufig darin, dass diese in unserer Gesellschaft über keine Lobby verfügen. Menschen mit Unterstützungsbedarf werden noch immer zu wenig als Persönlichkeiten mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen geschätzt und respektiert, sie sind vor allem «die Behinderten», «schwierige Kinder» oder «die Alten». Deshalb nehmen wir uns ihnen gegenüber oft zu viel heraus, ohne uns dessen bewusst zu sein. Im Interview zeigt Delphine Roulet Schwab, Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit La Source in Lausanne, diese Zusammenhänge bezogen auf alte Menschen eindrücklich auf (Seite 9). In den vergangenen zehn Jahren sind einige Bemühungen unternommen worden, um Grenzverletzungen zu verhindern. Im Bereich Behinderung haben knapp nach Bekanntwerden des Falls H. S. eine Reihe von Organisationen und Institutionen die Charta zur Prävention von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und anderen Grenzverletzungen unterzeichnet. Und ebenfalls seit zehn Jahren unterstützt der Bündner Standard Institutionen im Kinder- und Jugendbereich. In jüngster Zeit wird dem Thema besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Der Bündner Standard ist ab Frühling online verfügbar und kann von Institutionen unterschiedlichster Art genutzt werden (Seite 18). Im Behindertenbereich wartet die Branche gespannt auf den Bericht des Bundesrates zum Thema «Gewalt an Menschen mit Behinderung in der Schweiz», der demnächst veröffentlicht wird (Seite 24). Und: Endlich schaut die Gesellschaft auch bei der Gewalt im Alter genauer hin. Seit letztem Jahr leistet ein nationales Kompetenzzentrum Sensibilisierungsarbeit (Seite 6). In die gleiche Richtung zielen auch die Inspektionen in sozialen Institutionen durch die nationale Kommission zur Verhütung von Folter (Seite 13). Titelbild: Gewalt gegen alte Menschen passiert oft subtil. Und oft, weil vergessen geht, dass alte Leute nicht nur fragile, sondern auch bunte Persönlichkeiten sind und ein Leben gelebt haben. Foto: Marco Zanoni

ERSTE HILFE FÜR MENSCHENMIT LETZTER HOFFNUNG WWW.MSF.CH PK 12-100-2 © Ron Haviv / VII HF Diplom 3-jährige Vollzeitausbildung Dipl. Aktivierungsfachfrau HF Dipl. Aktivierungsfachmann HF Mehr zum Aufnahmeverfahren unter medi.ch Weiterbildungsangebote für Aktivierungsfachpersonen HF (Ermässigung für SVAT-Mitglieder) Zertifikat FAB Fachperson in aktivierender Betreuung Fachverantwortliche/r in Alltagsgestaltung und Aktivierung Mehr zu den Weiterbildungsangeboten unter medi.ch medi | Zentrum für medizinische Bildung | Aktivierung HF Max-Daetwyler-Platz 2 | 3014 Bern | Tel. 031 537 31 10 | at@medi.ch HÖHERE FACHSCHULE FÜR AKTIVIERUNG AM PULS DER PRAXIS > > AKTIVIERUNG ‣ Gesundheit Weiterbildung an der BFH CAS Gerontologie als praxisorientierte Wissenschaft Start: Mai 2023 Fachkurs Ältere Menschen und Angehörige systemisch und ressourcenorientiert beraten | Start: August 2023 Fachkurs Facilitation – Veränderungen (mit)gestalten Start: August 2023 Fachkurs Leadership bei Aggression und Gewalt Start: August 2023 Kurs Pharmakologie | Start: August 2023 bfh.ch/gesundheit/weiterbildung 02_WB_INA_PFL_v1.indd 1 18.01.2023 13:26:10

Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Urs Tremp (ut); Claudia Weiss (cw); Anne-MarieNicole (amn); FranceSanti (fsa); JennyNerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 2. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Laubisrütistrasse 44, 8712 Stäfa, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 031 963 1111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 031 385 33 33, EMail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8×deutsch (je 4600 Ex.), 4× französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2022 (nur deutsch): 3205 Ex. (davon verkauft 2989 Ex.), Nachdruck, auch auszugsweise, nur nachAbsprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Inhalt ARTISET 01/02 I 2023 5 Im Fokus 6 Ein nationales Kompetenzzentrum gegen Gewalt im Alter 9 Altersforscherin Delphine Roulet Schwab erläutert Hintergründe und was zu tun ist 13 Wo die Anti-Folterkommisson Potenzial für Verbesserungen sieht 18 Der Bündner Standard geht online – und wird breit einsetzbar 22 Eine praktische Anleitung zum Umgang mit Grenzverletzungen 24 Menschen mit Behinderung noch besser vor Gewalt schützen kurz & knapp 26 Puppen in der Geriatrie Aktuell 28 Unterstützung bei der Personalplanung – dank einem «Grademix-Konfigurator» 31 Geriaterin Gabriela Bieri erläutert die Empfehlungen eines nationalen Komitees 35 Kooperationen schaffen Mehrwert 38 Erfahrungen mit einem digitalen Ausbildungskonzept 42 Mehr Geld für familienergänzende Betreuung 44 Fehlanreize von Leistungspauschalen Politische Feder 46 Marina Carobbio, Tessiner SP-Ständerätin 18 31 46

6 ARTISET 01/02 I 2023 Gewalt im Alter: Praktische Hilfe für Betroffene Ein nationales Kompetenzzentrum berät Gewaltbetroffene und Angehörige, aber auch Nachbarn, Freiwillige sowie Fachpersonen bei Gewalt und Misshandlungen alter Menschen. Neben der spezialisierten Anlaufstelle engagiert sich das Zentrum in der Sensibilisierung und Information der Öffentlichkeit sowie von Organisationen der Langzeitpflege. Von Elisabeth Seifert Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA in Zürich nimmt Anrufe von direkt oder indirekt involvierten Personen entgegen. Foto: UBA/Ruth Mettler Ernst

ARTISET 01/02 I 2023 7 Im Fokus Die Zahlen lassen aufhorchen: Jahr für Jahr sind hierzulande 300000 bis 500000 Menschen im Alter von 60 Jahren und darüber von irgendeiner Form von Gewalt betroffen, von psychischer Gewalt, von physischem oder finanziellem Machtmissbrauch. Ein grosses Problem sind auch Vernachlässigungen unterschiedlicher Art. Oft sind die betagten Menschen dabei von einer Kombination mehrerer Gewaltformen betroffen. Neben der Tatsache als solche gibt zu denken, dass solche Zahlen, die notabene blossen Schätzungen entsprechen, erst seit wenigen Jahren ins öffentliche Bewusstsein dringen. Genannt wurden sie erstmals in Bericht des Bundesrates «Gewalt im Alter verhindern», der im Jahr 2020 als Antwort auf ein parlamentarisches Postulat publiziert worden ist. Nur ein verschwindend kleiner Teil all dieser Fälle wird bekannt. Dies zeigt etwa die Zahl der Meldungen bei der nationalen Anlaufstelle Alter ohne Gewalt, die ältere Menschen und ihr Umfeld bei der Klärung, Vermittlung und Schlichtung in Konfliktsituationen und in Misshandlungssituationen unterstützt. Die im Jahr 2019 lancierte nationale Anlaufstelle mit der Telefonnummer 0848 00 13 13 wird jährlich in gut 200 Fällen von vermuteter Misshandlung kontaktiert. «Information und Sensibilisierung zur Gewalt im Alter ist dringend notwendig», sagt denn auch Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin der Anlaufstelle, die auf Anfang 2022 zum «ersten Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt» erweitert worden ist. Auch bei der Misshandlung von Kindern habe es lange gedauert, bis die Öffentlichkeit davon Kenntnis genommen hat. Die Sensibilisierung für die Gewaltthematik im Alter sei dabei umso wichtiger, da der Anteil der älteren Menschen in der Gesellschaft immer grösser wird und insbesondere hochbetagte Menschen sehr verletzlich sind. Während die breite Öffentlichkeit erst langsam auf das Thema aufmerksam wird, sind die drei selbstständigen Organisationen Alter Ego (Westschweiz), Pro Senectute Ticino e Moesano (Südschweiz) und die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA (Deutschschweiz) bereits seit über 20 Jahren in diesem Bereich tätig. Mit der Gründung des nationalen Kompetenzzentrums haben sich diese Organisationen ein gemeinsames Dach gegeben, um ihre Aufklärungsarbeit zur Verhinderung von Gewalt im Alter voranzutreiben. Unterstützt wird das Zentrum vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) im Rahmen des Programms zur Unterstützung von Projekten im Bereich der häuslichen Gewalt. Sich frühzeitig melden «Unsere Mission ist es, der Gewalt durch präventive Arbeit zu begegnen», betont Ruth Mettler Ernst. Sie leitet neben dem nationalen Kompetenzzentrum seit vielen Jahren die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter. Im Blick hat das Kompetenzzentrum sowohl Gewalt im häuslichen als auch im institutionellen Bereich. «80 Prozent der Fälle, die wir bearbeiten, betreffen den häuslichen Bereich, 20 Prozent Pflegesituationen im institutionellen Bereich.» Ein Verhältnis, das über die Jahre gleich geblieben sei, so Mettler Ernst. In den eigenen vier Wänden sei dabei oft die Überforderung betreuender Angehöriger die Ursache von Konflikten bis hin zu Misshandlungen. «Angehörige sind sich oft zu wenig bewusst, was Betreuungsarbeit und die Pflege bedeuten, und schlittern so, ohne dies zu wollen, in eine sie belastende Situationen hinein.» Im institutionellen Bereich ortet Mettler die Ursachen unter anderem im fehlenden Wissen zu den verschiedenen Formen von Gewalt. Zudem können Stresssituationen und Personalmangel dazu führen, dass es insbesondere zu psychischer Gewalt oder auch Vernachlässigungen kommt. «Im institutionellen Bereich werden Beispiele aus der Beratung des Kompetenzzentrums finden Sie hier:

8 ARTISET 01/02 I 2023 wir zudem auch mit Fällen konfrontiert, bei denen die Pflegenden von den Gepflegten in irgendeiner Form attackiert werden.» Eine zentrales Aufgabenfeld des Kompetenzzentrums besteht darin, Gewaltbetroffene, Angehörige, Nachbarn und Freiwillige sowie Fachpersonen in einer konkreten Situation persönlich zu beraten und zu unterstützen. «Damit wir möglichst frühzeitig nach Lösungen suchen können, ist es wichtig, dass wir auch möglichst früh Meldung erhalten», hält die Expertin fest. Wer sich über die Telefonnummer 0848 00 13 13 bei der nationalen Anlaufstelle meldet, wird dabei automatisch zu einer der drei sprachregional tätigen Organisationen tragiert. Psychische Gewalt und Vernachlässigung Ob im Tessin, in der Westschweiz oder in der Deutschschweiz: Fachpersonen zum Thema Gewalt, die entweder ehrenamtlich tätig oder festangestellt sind, nehmen die Anrufe entgegen, leisten eine erste Beratung und geben die Fälle dann weiter, an Fachorganisationen oder wiederum an ehrenamtliche, pensionierte Fachpersonen aus unterschiedlichen Bereichen – von Medizin über Recht bis hin zu ehemaligen Heimleitenden. Bei der UBA sind gemäss dem Vieraugenprinzip sowie dem Grundsatz interprofessioneller Fallführung immer zwei Fachleute involviert. «Ein Fall kann recht aufwendig sein», weiss Ruth Mettler Ernst. Die Fachleute nehmen erneut mit der meldenden Person Kontakt auf und erarbeiten Lösungsmöglichkeiten. «Dabei geschieht alles vertraulich, und sofern keine akute Gefährdung vorliegt, werden keine Entscheide über die Köpfe der Meldenden hinweg getroffen.» Allein für die UBA, die zusätzlich zu Gewaltthemen auch in Konflikten unterschiedlichster Art berät und unterstützt, sind 70 freiwillige Fachpersonen tätig. Die mit dem Thema Gewalt im Alter befassten Fachpersonen der drei Organisationen UBA, Alter Ego und Pro Senectute Ticino e Moesano kommen regelmässig zu Weiterbildungen und anonymisierten Fallbesprechungen zusammen. Obwohl die nationale Statistik für das Jahr 2022 noch nicht abgeschlossen ist, zeichnen sich über 200 Fälle ab, dies entspricht in etwa den Zahlen der letzten Jahre. Gut drei Viertel der von Gewalt Betroffenen sind weiblich. Im Durchschnitt sind die Betroffenen gut 80 Jahre alt. Und, so Mettler: «Wie bereits in den Vorjahren sind Vernachlässigungen und psychische Gewalt die beiden grossen Themen.» Die Meldungen erfolgen insbesondere durch die Gewaltbetroffenen selbst und von Angehörigen. Um gute, nachhaltige Lösungen zu finden, werde auch immer das Umfeld einbezogen, betont Mettler. Das nationale Kompetenzzentrum arbeite zu diesem Zweck mit einer Reihe von Partnern im Bereich der Altershilfe zusammen. «Konflikte können aber nur dann nachhaltig gelöst werden, wenn alle Involvierten mitarbeiten.» Dies gelinge oft, aber längst nicht immer. «Es braucht vonseiten der ehrenamtlich tätigen Fachpersonen ein gewisses Mass an Frustrationstoleranz. Man muss aushalten können, dass es manchmal keine Lösung gibt.» Das Kompetenzzentrum bekannter machen Zusätzlich zur persönlichen Unterstützung in einer spezifischen Situation engagiert sich das nationale Kompetenzzentrum in der Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie des Fachpersonals in Organisationen der Langzeitpflege. Dazu gehören Weiterbildungen für Mitarbeitende in Pflegeheimen und der Spitex, aber etwa auch für freiwillig Mitarbeitende, z. B. von Fahrdiensten. «Die zurzeit oft nur in einer Sprachregion und zu bestimmten Schwerpunkten durchgeführten Weiterbildungen sollen zusammengeführt und national nutzbar gemacht werden», erläutert Mettler ein wichtiges Ziel. Ein weiteres – langfristiges – Ziel besteht darin, die von verschiedenen Organisationen einschliesslich der Polizei erstellten Statistiken zu einer einzigen nationalen Statistik zur Gewalt im Alter zusammenzuführen. Einen Sensibilisierungsschub erhofft sich Ruth Mettler von einer im kommenden Frühling durch die von der Schweizerischen Kriminalprävention lancierten Kampagne gegen Gewalt im Alter, an der sich gerade auch das nationale Kompetenzzentrum prominent beteiligen wird. «Unser Netzwerk dürfte damit bei Betroffenen und Angehörigen noch bekannter werden.» Eine weitere Aufgabe des Kompetenzzentrums besteht darin, das über viele Jahre innerhalb der drei sprachregionalen Organisationen von UBA, Alter Ego sowie der Pro Senectute Ticino e Moesano erarbeitete Fachwissen zusammenzutragen, zu systematisieren – und anderen Organisationen, einschliesslich der Wissenschaft, zur Verfügung zu stellen. Bereits beteiligt hat sich das Kompetenzzentrum an einer Studie der Fachhochschule Luzern, deren Ergebnisse in den eingangs erwähnten Bericht des Bundesrates eingeflossen sind. «Konflikte können nur dann nachhaltig gelöst werden, wenn alle Involvierten mitarbeiten.» Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin des Kompetenzzentrums Nationales Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt: Hotline (Normaltarif): 0848 00 13 13. E-Mail: info@alterohnegewalt.ch. ➞ alterohnegewalt.ch Im Fokus

ARTISET 01/02 I 2023 9 Im Fokus Gewalt gegenüber alten Menschen findet längst nicht nur in Form von körperlichen Misshandlungen statt, sondern weit häufiger als subtile Missachtung. «Das passiert oft deshalb, weil man alten Menschen abspricht, dass sie noch eigene Bedürfnisse haben», erklärt Psychologin Delphine Roulet Schwab*. Sie schlägt vor, unbedingt bereits in der Berufsbildung den Blick dafür zu öffnen. Interview: Claudia Weiss «Nicht nur alt, sondern alte Persönlichkeiten!» Sie forschen seit 20 Jahren auf dem Gebiet Gewalt im Alter und haben zahlreiche Studien publiziert. Gibt es etwas rund um dieses Thema, das Sie noch heute überrascht? Delphine Roulet Schwab: Schon als ich während meines Psychologiestudiums als Pflegehilfe in einem Altersheim gearbeitet habe, wunderte ich mich darüber, wie jemand «ganz Normales», jemand wie Sie und ich, plötzlich fähig ist, gegenüber einer wehrlosen Person Gewalt auszuüben. Und noch wichtiger ist natürlich die Frage, wie man das verhindern kann. Diese Frage beschäftigt mich bis heute. Im Lauf Ihrer Forschungstätigkeit haben Sie allerdings auch diverse Antworten gefunden. Wichtig ist, dass wir uns stets bewusst sind: Längst steckt nicht immer eine böse Absicht hinter Gewalttätigkeit, sondern manche übergriffigen Verhaltensweisen geschehen auch eigentlich in guter Absicht. Aber das Hauptmotiv für Gewalt ist, dass wir den alten Menschen automatisch ihren Willen und ihre Wünsche absprechen! Natürlich wird beispielsweise durch eine Alzheimererkrankung die Autonomie der Betroffenen eingeschränkt, aber wir sprechen diese oft auch allen anderen alten Menschen ab. Sie sprechen also von einer klaren Altersdiskriminierung? Ja, Altersdiskriminierung ist ein wichtiger sozialer Aspekt: Diese negative Bewertung, die Tatsache, dass alle von vornherein in denselbenTopf geworfen werden. Dass «alt» sofort mit «fragil und verletzlich» konnotiert wird und dass sich irgendwie in unseren Köpfen die Idee eingenistet hat, die Persönlichkeit verschwinde im Alter – man ist dann nicht mehr eine alte Persönlichkeit, sondern nur noch alt. Dasselbe passiert oft in Institutionen: Sie sind grosse Maschinen, die funktionieren müssen und in die sich alte Menschen irgendwie einfügen müssen.

10 ARTISET 01/02 I 2023 Wie kommt es denn, dass wir die Persönlichkeit alter Menschen so einfach vergessen? Ein Problem ist, dass alte Menschen sich selbst oft nicht als alt erkennen, da diese soziale Kategorie nicht wertgeschätzt wird. Ich erinnere mich an eine 96-jährige Frau im Altersheim, die auf die Frage, wie es ihr heute gehe, dezidiert antwortete: «Ach, es ist schrecklich langweilig hier – alles nur alte Leute!» Anders als in den USA haben alte Menschen hier keine Lobby, und in Arbeitsgruppen sind zwar Altersorganisationen wie Pro Senectute vertreten, aber kaum die alten Menschen selbst. Letztlich ist es also dieses ganze Umfeld, das zu Gewalt gegenüber alten Menschen führt. Und, wie Sie erforscht haben, geschieht das eben nicht nur in Institutionen, sondern auch in Beziehungen von erwachsenen Kindern gegenüber ihren älter werdenden Eltern… Oft handelt es sich dabei um eine Form der Machtübernahme, die anfangs fast unmerklich ist. Die Infantilisierung oder kleine Beleidigungen beginnen ganz langsam: «Komm, lass mich das machen, das verstehst du eh nie!» Oder: «Brauchst du wirklich noch einen neuenMantel, willst du wirklich noch eine so teure Reise unternehmen, und brauchst du denn noch ein ganzes Haus für dich?» Auch wenn die Kinder frei über die Konten ihrer Eltern verfügen oder bei den Einkäufen deren Kreditkarte auch gleich für die eigenen Besorgungen verwenden, ist das Gewalt. Nur sind wir uns dessen oft gar nicht richtig bewusst. Insgesamt sind geschätzte 300000 Seniorinnen und Senioren jährlich von Misshandlungen betroffen. Ja, eine enorme Zahl. Vor allem, weil in der Schweiz keine Statistik verfügbar ist und dies nur Schätzungen anhand Altersforscherin Delphine Roulet Schwab: «Manchmal muss man die Situation durch die Augen alter Menschen nachempfinden.» Foto: Hélène Tobler

ARTISET 01/02 I 2023 11 von Statistiken aus dem umliegenden Ausland sind. Das heisst, die Dunkelziffer könnte massiv höher sein. Wir gehen davon aus, dass rund 20 Prozent der über 60-jährigen Menschen davon betroffen sind, also eine von fünf Personen. Dieselben Zahlen begegnen uns übrigens im Bereich Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen oder gegen Frauen in der Ehe. Sie sagen, das passiere oft ganz subtil. Was sind erste Anzeichen? Eine Form von Gewalt ist auch Ausbeutung, und diese beginnt oft schleichend. Beispielsweise indem die erwachsenen Kinder von ihren Eltern ganz selbstverständlich erwarten, regelmässig die Grosskinder zu hüten, und dann auch nicht zögern, Druck aufzusetzen à la: «Wenn ihr nie Zeit habt, seht ihr eure Grosskinder halt nicht mehr.» Das klingt traurig. Deprimieren Ihre Forschungsarbeiten Sie nicht manchmal? Doch, schon, aber meine Motivation ist es, Möglichkeiten für die Prävention zu finden und etwas an dieser traurigen Situation zu ändern. Und, welche Möglichkeiten haben Sie gefunden? Es geht hier nicht nur um die intellektuelle Frage, was abläuft, sondern das Thema muss auch emotional berühren, damit ein echtes Umdenken stattfindet. Die Prävention funktioniert oft sehr sachlich kühl oder mit Angst. Um «von innen heraus» zu verstehen, inwiefern ein Verhalten missbräuchlich ist und die Integrität undWürde verletzt, müssen Pflegende und Angehörige jedoch die Situation durch die Augen der älteren Person nachempfinden können. Das gelingt viel besser mit persönlichen Erlebnisberichten, indem man nicht nur Fakten präsentiert, sondern Geschichten erzählt. Dasselbe fordere ich auch für die Berufsausbildung. Was schlagen Sie punkto Berufsausbildung konkret vor? Man könnte viel mehr mit Rollenspielen arbeiten, bei denen die Studierenden beispielsweise einander gegenseitig füttern oder im Rollstuhl umherschieben müssten. Heute ist enorm wichtig zu zeigen, wie unverzichtbar Expertise auch in der Langzeitpflege ist, und wie spannend diese Arbeit ist: Die Pflegenden können analysieren, komplexe Situationen handhaben und mit Multimorbidität umgehen, und es gibt auch schöne menschliche Begegnungen. Ein positives Berufsbild hätte letztlich einen guten Effekt für die Langzeitpflegeinstitutionen… Unbedingt. Und diese können ihrerseits wesentlich zur Prävention von Altersgewalt beitragen, indem sie ihre gesamte Organisation hinterfragen: Warum muss eine Pflegekraft, die an einem Vormittag vier Bewohnerinnen und Bewohner betreuen muss, diese unbedingt täglich duschen und ein eng strukturiertes Programm durchziehen, anstatt Zeit dafür zu verwenden, mit den alten Menschen zu sprechen, zu spazieren und ihnen einen Wunsch zu erfüllen? Was ist wirklich wichtig? Aus wessen Sicht? Und warum sind solche Freiheiten in einem Hotel möglich, sollen aber in einer Institution völlig unmöglich sein? Zudem ist man noch zu häufig davon überzeugt, dass ein Pflegeheim letztlich eine Wohlfahrtseinrichtung ist. Das mag früher so gewesen sein, aber heute bezahlen die Leute oft 6000 Franken monatlich für das Angebot. Dafür ist der Dienstleistungsgedanke noch viel zu wenig ausgeprägt – und das wiederum hängt ganz klar mit dem Thema Gewalt zusammen. Können Sie das bitte etwas konkreter ausführen? Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich wesentlichmehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden. Oft hat in Institutionen ganz klar der Dienstplan Vorrang statt der betreuten Personen: Falls Frau X gerne täglich frisch duscht, soll sie das dürfen. Wenn aber Frau Y lieber wöchentlich ein schönes Schaumbad wünscht und sich sonst am Lavabo wäscht, soll sie auch das dürfen. Institutionsangestellte sollten beim Setzen der Prioritäten auch die Rechte und den Wert der alten Menschen in Betracht ziehen – sie sollten die alten Menschen mit anderen Augen sehen statt nur als Arbeit oder als Dinge, die gepflegt werden müssen. Natürlich muss man auch aufpassen, dass man nicht überall sofort Gewalt sieht, und Unstimmigkeiten gehören zum Leben, damit müssen wir alle umgehen. Woran merken wir, ob wir noch im Bereich «Unstimmigkeiten» sind oder schon in Richtung Gewalt abdriften? Die grosse Frage ist immer: Berührt es die Integrität, die Würde und die «Dieser Gedanke der Wohltätigkeit verleiht den Pflegenden und Betreuenden Macht, und dadurch erlauben sie sich oft wesentlich mehr, als sich das Angestellte in einem Hotel erlauben würden.» Delphine Roulet Schwab Im Fokus

12 ARTISET 01/02 I 2023 Rechte einer Person? Nehmen wir ein Beispiel: Als Heimbewohnerin bin ich vielleicht wütend oder enttäuscht, weil sich die Pflegefachfrau zuerst um meine Zimmernachbarin gekümmert hat. Aber das bedeutet nicht, dass ich ein Opfer von Gewalt bin. Wenn ich die Pflegerin jedoch darauf hinweise und sie antwortet: «Sie müssen warten. Sie meckern sowieso immer. Da es nun einmal so ist, müssen Sie sich eben selbst helfen», dann ist das etwas völlig anderes. Lassen sich solche Verletzungen überhaupt verhindern? Fehler können jederzeit passieren, sobald jemand mit Kindern oder alten, vulnerablen Menschen arbeitet. Sowohl in Institutionen als auch in Familien ist es daher enorm wichtig, eine gute Fehlerkultur zu pflegen: Es ist wichtig, das Fehlverhalten aufzuzeigen, sich zu entschuldigen und vor allem daraus zu lernen. Wurde beispielsweise eine Bewohnerin eine halbe Stunde auf der Toilette vergessen, wirkt es auf die aufgebrachten Angehörigen völlig anders, wenn die Pflegeverantwortlichen den Fehler zugeben, dazu stehen, sich entschuldigen und erklären, man werde Massnahmen ergreifen, damit das nicht mehr vorkomme, als wenn sie aufgebracht rufen, die Familie solle nicht so übertreiben und man habe halt einfach viel Stress. Eines Ihrer neueren Forschungsthemen betrifft die eheliche Gewalt bei alten Paaren. Auch das ist ein Thema, das in unseren Köpfen gar nicht so richtig existiert. Warum? Bei älteren Paaren denken wir nicht an Sexualität oder Emotionen, sie werden irgendwie gestaltlos. Deshalb kommen alte Paare in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert. Doch nur wenige ältere Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, melden sich bei einer Anlaufstelle. Zum einen aus generationellen Gründen, weil eine 80-jährige Frau noch fest verinnerlicht hat, dass ihr Mann das Familienoberhaupt ist. Zum anderen, weil die Hilfsangebote nicht immer auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind: Viele Infos finden sich nur via Internet, und im Frauenhaus werden nur nicht-pflegebedürftige Frauen aufgenommen. Deshalb fürchten viele die Konsequenzen, beispielsweise dass sie in ein Pflegeheim gehen müssen, die Familie gegen sich aufbringen oder ihren Hund verlieren. Der Bundesrat prüft, ob ein «Impulsprogramm zu Gewalt im Alter» nötig ist, um die Situation zu verbessern. Braucht es das? Könnten wir nicht einfach als Gesellschaft besser darauf achten? Ja, ein offizielles Impulsprogramm ist sehr wichtig, weil das Thema so wenig sichtbar ist und so selten besprochen wurde. Mittel für das Thema freizusetzen, heisst letztlich auch, dem Thema einen Wert zu geben. Ausserdem existieren zwar viele Einzelangebote, aber sie sind sehr zerstückelt, und auch die Institutionen arbeiten in diesem Thema noch überhaupt nicht zusammen. Eine einheitliche Anlaufstelle wie das nationale Kompetenzzentrum «Alter ohne Gewalt» und eine gute Vernetzung sind dringend nötig. Deshalb wird man Ende Jahr mehr hören zu diesem Thema. Wie sehen aus Ihrer Sicht die idealen Voraussetzungen dafür aus, dass Pflegende und Angehörige die alten Menschen gewaltfrei betreuen können? In einer idealen Welt hätten alle Menschen die gleichen Rechte, unabhängig von Alter, Geschlecht und Landeszugehörigkeit. In der Schweiz, einem reichen, zivilisierten Land, dürften alte Menschen ihren Platz und ihren Wert trotz fortgeschrittenen Jahren behalten. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass die Gesundheit eines Landes daran gemessen werden kann, wie es seine Alten behandelt. Da hat die Schweiz noch Verbesserungsbedarf. Man darf aber auch nicht vergessen, dass es auch systembedingte und politische Elemente gibt: Alters- und Pflegeheime werden im Gesundheitssystem oft nicht angemessen anerkannt und die Rahmenbedingungen erzeugen einen grossen Druck auf die Einrichtungen und ihre Angestellten. Natürlich ist jeder Einzelne für seine Taten verantwortlich, aber die Gesellschaft trägt auch eine kollektive Verantwortung für Gewalt gegen ältere Menschen. * Delphine Roulet Schwab, Dr. phil. Psychologie, 44 Jahre, ist Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO) in Lausanne. Sie lehrt und forscht im Bereich Alterung. Zudem präsidiert sie den Westschweizer Verein Alter Ego, der sich in der Gewaltprävention für alte Menschen engagiert. Sie ist Präsidentin des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt und von Gerontologie ch. «Alte Paare kommen in der Prävention häuslicher Gewalt gar nicht vor – als ob die Gewaltbereitschaft eines Ehemanns einfach verschwinden würde, sobald er seinen 60. Geburtstag feiert.» Delphine Roulet Schwab Im Fokus

ARTISET 01/02 I 2023 13 Im Fokus Wenn die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) einem Pflegeheim oder einer anderen sozialen Institution einen Besuch abstattet, mag das für manche befremdend klingen. Die hierzulande irritierende Bezeichnung der Kommission erklärt sich mit dem Zusatzprotokoll zur UN-Konvention zur Verhütung von Folter, die von der Schweiz ratifiziert worden ist. Die internationalen Normen mündeten in ein Bundesgesetz, das die Aufgaben der Kommission beschreibt. Diese internationalen und nationalen Grundlagen verlangen, dass die NKVF Einrichtungen mit Freiheitsentzug oder auch mit freiheitsbeschränkenden Massnahmen besucht. In der Schweiz, wo die Folter kaum vorkommen dürfte, überprüft die Kommission, ob die Grund- und Menschenrechte garantiert sind. Seit ihrer Gründung in Jahr 2010 besuchte die Kommission vor allem Gefängnisse sowie Psychiatrien und Bundesasylzentren, aber auch Kinder- und Jugendheime, in denen die Freiheit beschränkt wird oder Zwangsmassnahmen durchgeführt werden. ImHerbst 2021 hat die NKVF mit ihren Inspektionen in sozialmedizinischen und sozialen Institutionen begonnen. Insgesamt hat sie bis Ende Januar 2023 neun Pflegeheimen aus allen Landesteilen einen Besuch abgestattet. Anfang Januar 2023 sind die Berichte über die Inspektionen in den ersten beiden Pflegeheimen auf der Website der NKVF aufgeschaltet worden: Am 27. Oktober 2021 hatte eine Delegation der NKVF das Pflegeheim Senevita Lindenbaum in Spreitenbach AG besucht. Am 29. November 2021 folgte ein Besuch in der Genfer Institution La Maison de Vessy. Respektvoll und freundlich Die Einhaltung menschenrechtlicher Standards ist gerade auch bei der Pflege und Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf eine anspruchsvolle Aufgabe. Ein hochsensibler Bereich, den die Kommission bei ihren Besuchen in den Pflege- und auch den sozialen Institutionen besonders im Blick hat, ist der Umgang mit freiheitseinschränkenden Massnahmen, wozu etwa elektronische Eine Chance zur Verbesserung Anfang Januar hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) erste Berichte zu ihren Besuchen in sozialmedizinischen und sozialen Institutionen veröffentlicht. Neben einer grundsätzlich positiven Beurteilung sieht die Kommission auch Potenzial für Verbesserungen. Von Elisabeth Seifert

14 ARTISET 01/02 I 2023 Massnahmen, Bettgitter oder auch geschlossene Abteilungen gehören. Weiter prüft die Kommission, ob es ein Konzept zur Gewaltprävention gibt – und dieses tatsächlich angewendet wird. Auch der Umgang mit Beschwerden oder die medizinische Versorgung sind wichtige Themen. In Übereinstimmung mit internationalen Vorgaben inspiziert die Kommission überdies die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen in einem sehr allgemeinen Sinn, unter anderem die Tagesstrukturen, die für die psychische Gesundheit von Bedeutung sind. Bei ihren Besuchen in den beiden Pflegeheimen Senevita Lindenbaum in Spreitenbach sowie im La Maison de Vessy in Genf verschaffte sich die Kommission zu all diesen Bereichen einen vertieften Einblick. Zu diesem Zweck unterhielten sich die jeweils sechsköpfigen Delegationen unter der Leitung von Regula Mader, der Präsidentin der Kommission, mit mehreren Bewohnenden und Angehörigen, mit der Institutionsleitung, Mitarbeitenden sowie dem zuständigen Arzt beziehungsweise der zuständigen Ärztin. In den beiden jeweils rund siebenseitigen Berichten zieht die Kommission eine durchaus positive Bilanz: Die beiden Heime bieten den Bewohnenden ein gutes Lebensumfeld. Der Umgang mit den Bewohnenden durch die Mitarbeitenden wird in beiden Häusern als «respektvoll und freundlich» beschrieben. Explizit festgehalten wird zudem, dass die Delegationen, die ihre Besuche jeweils nur wenige Tage zuvor schriftlich ankündigen, «freundlich und offen» empfangen worden sind und «vollumfänglich» Einsicht in die gewünschten Dokumente erhielten. In den Berichten ist schliesslich auch kein Hinweis auf festgestellte Misshandlungen oder fehlende Sorgfalt zu erkennen. Massnahmen regelmässig überprüfen Trotz der grundsätzlich positiven Bilanz enthalten die beiden Berichte auch kritische Feststellungen sowie Empfehlungen zu Verbesserungen. Ohne die Tatsache explizit zu bewerten, hält der Bericht über den «Lindenbaum» fest, dass im September 2021 46 Bewohnende – und damit rund die Hälfte der anwesenden Bewohnerinnen und Bewohner – von einer freiheitseinschränkenden Massnahme betroffen waren, darunter elektronische Einschränkungen, aber auch Bettgitter oder Sitzgelegenheiten, die am Aufstehen hindern. Im Genfer Pflegeheim waren es am Besuchstag mit 78 von insgesamt 219 Bewohnenden gut ein Drittel. In einer auf diese Zahlen bezogenen Fussnote zitiert die Kommission einen Passus aus den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an die Adresse der Schweiz vom April letzten Jahres. Unter der Ziffer 32 a heisst es hier: «Der Ausschuss empfiehlt demVertragsstaat die Abschaffung aller Formen (…) der Anwendung (…) physischer und mechanischer Zwangsmassnahmen (…) in Gesetz, Politik und Praxis.» In beiden Berichten anerkennt die Kommission die rechtmässige Anordnung der Massnahmen. Aus ihrer Sicht seien aber die Begründungen zum Teil zu wenig detailliert. In beiden Häusern war zudem die Regelmässigkeit der Überprüfung nicht klar vermerkt. Im Bericht über «La Maison de Vessy» empfiehlt die Kommission «eine ausführliche Dokumentation freiheitseinschränkender Massnahmen einschliesslich deren Überprüfung». Im Bericht über den «Lindenbaum» weist sie darauf hin, dass «Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit regelmässig auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft werden müssen». Schulungen in der Gewaltprävention Sowohl das Aargauer als auch das Genfer Pflegeheim verfügen über Standards zum Thema Gewalt. Die für den «Lindenbaum» – und alle Senevita-Heime – gültigen Richtlinien halten etwa fest, «dass Gewalt in keiner Form toleriert wird, weder von Kundinnen und Kunden noch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern». Zudem werden allfällige Ereignisse dokumentiert. Anlässlich der Gespräche fiel der Kommission auf, «dass das Personal keine Kenntnisse über diesen Standard hatte», heisst es im Bericht. Die Kommission empfiehlt denn auch der Leitung, «das Personal über den Standard regelmässig zu informieren und zu instruieren sowie regelmässig im Aggressions- und Deeskalationsmanagement zu schulen». Die Direktiven im «La Maison de Vessy» beinhalten ein schriftliches Verfahren zur Aufdeckung und Intervention NATIONALE KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER Im Herbst 2021 hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) damit begonnen, die Einhaltung grundrechtlicher Standards in Institutionen der Langzeitpflege und imBehindertenbereich zu überprüfen. Bis Ende Januar 2023 hat sie neun Pflegeheime aus allen Landesteilen besucht. Die seit 2010 bestehende Kommission inspiziert die Menschen- und Grundrechtskonformität freiheitsbeschränkender Massnahmen – auch bei Patientinnen und Patienten respektive Bewohnenden in psychiatrischen Einrichtungen sowie in sozialen und sozialmedizinischen Institutionen. Die Besuche der NKVF dauern jeweils ein bis zwei Tage. Danach verfasst die Kommission einen Bericht zuhanden der Aufsichtsbehörde. Diese hat zwei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Liegt deren Stellungnahme vor, wird der Bericht veröffentlicht. Nach der Publikation der ersten beiden Berichte Anfang Januar 2023 werden in den kommenden Wochen und Monaten weitere Berichte publiziert. In diesem Jahr sowie in den kommenden Jahren wird die Kommission weitere Heime inspizieren, neben Pflegeheimen kommen ab 2024 Behinderteninstitutionen dazu.

ARTISET 01/02 I 2023 15 . RedLine − seit 20 Jahren engagiert für Sie RedLine Software GmbH · 9000 St. Gallen +41 71 220 35 41 · info@redline-software.ch redl ine-software.ch Am 1. Februar 2003 wurde die Entwicklung der ersten Version der Software RedLine fertiggestellt. Ausgehend von diesem Prototyp wurde RedLine als Serverversion stetig weiterentwickelt. In der ganzen Deutschschweiz wird RedLine in 125 Institutionen mit 13‘235 Klientinnen und Klienten genutzt. 300 Betreuungspersonen nutzen inzwischen die neue RedLine-App. Für das gschenkte Vertrauen danken wir allen Kundinnen und Kunden. Nehmen Sie mit uns Kontakt auf und teilen Sie uns mit, wie wir Sie mit RedLine unterstützen können. Beat Binotto · Brigitte Brunner Yves Guntersweiler · Karin Immler Armin Inauen · Franz Niederer Stefan Ribler · Stefan Ruch Daniel Suter · Timo Wetzel Anzeige bei Misshandlungen. Vorgesehen ist explizit auch die Schulung des Personals. Das Heim verfügt seit 2021 zudem über eine Meldestelle, an die sämtliche Vorfälle gemeldet werden müssen, egal, ob sie als schwerwiegend eingestuft werden oder nicht. Die Meldestelle ist denn auch zuständig für eine Analyse, den Bericht und die Festlegung von Verbesserungsmassnahmen. Neben der Gewaltprävention richtete die Kommission ihr Augenmerk auf das Beschwerdemanagement: Während der «Lindenbaum» über ein detailliertes, schriftlich festgehaltenes Verfahren zur Erfassung und Bearbeitung von Beschwerden verfügt, fehlt im «La Maison de Vessy» ein solches. Ein Merkblatt hält fest, dass die Bewohnende oder Angehörige mit ihren Beschwerden an die verschiedenen internen Stellen gelangen können. Die Kommission empfiehlt denn auch, ein schriftliches Verfahren einzurichten und das Personal entsprechend zu schulen. Verschiedene Verbesserungen schlägt die Kommission auch in den Bereichen medizinische Versorgung sowie Lebens- und Aufenthaltsbedingungen vor. Dazu gehört etwa, gerade auch Bewohnenden der Demenzabteilungen täglich einen Aufenthalt im Freien zu ermöglichen. Aus beiden Berichten geht schliesslich hervor, dass die Institutionen mit einem knappen Personalbestand auskommen müssen. Den zuständigen Behörden des Pflegeheims in Genf empfiehlt die Kommission, «angemessene personelle Ressourcen bereitzustellen, um die Aktivierung und die individuelle Unterstützung zu stärken». «Wir nehmen die Empfehlungen ernst» Während der Kanton Aargau als Aufsichtsbehörde des Pflegeheims «Lindenbaum» auf eine Stellungnahme zum Bericht verzichtet, ist die Stellungnahme des für die Institution «La Maison de Vessy» zuständigen Genfer Departements zusammen mit dem Kommissionsbericht auf der Website der NKVF aufgeschaltet. Man stelle mit Befriedigung fest, heisst es im Schreiben von Ende Oktober 2022, dass die Kommission demHeim solide Arbeit imDienst Im Fokus

Wir begleiten Sie bei der Implementierung des Bündner Standards Schiess – Beratung von Organisationen AG Aarau und Bern, www.schiess.ch, info@schiess.ch Das bieten wir Ihnen an: – Information und Schulung – Standortbestimmung und Festlegen der notwendigen Schritte für die Implementierung – Unterstützung bei der Anpassung und Ergänzung der Konzeption (Gesamtkonzeption, spezifische Konzepte) – Unterstützung bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses und Grundhaltung zu grenzverletzendem Verhalten in Ihrer Einrichtung – Audit mit Schwerpunkt Bündner Standard Umsetzung des Bündner Standards Wir unterstützen Sie in allen Belangen und Phasen bei der Umsetzung des Bündner Standards in ihrem Verantwortungsbereich. Punktuell oder vollumfänglich. Geschäftsführung 80–100% Innovativ. Mutig. Dynamisch. Unabhängig. Das ist die gemeinnützige Genossenschaft Alterszentrum Kreuzlingen (GAZK), eines der führenden Alterszentren der Ostschweiz. Zentral gelegen, ist die GAZK ein Lebensort für rund 270 Menschen im dritten und vierten Lebensabschnitt. Im Auftrag des Vorstands suchen wir nach Vereinbarung eine charismatische und führungsstarke Persönlichkeit. Das sind Ihre Aufgaben Sie haben die operative Führung der GAZK und setzen die strategischen Vorgaben um. Nach fachlichen Grundsätzen und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen führen Sie die GAZK. Sie prägen die Betriebskultur mit einer klaren Haltung und einem authentischen Auftreten. Den im Bau befindenden neuen Trakt mit 63 Wohnungen, begleiten Sie zielführend. Gemeinsam mit der Geschäftsleitung erarbeiten Sie Dienstleistungsangebote. Repräsentative Aufgaben gehen Sie aktiv an und pflegen das bestehende Netzwerk. Zudem lösen Sie Anliegen lösungsorientiert und vertreten Entscheide des Vorstandes. Das bringen Sie mit • Mehrjährige Erfahrung als Gastgeber:in und Manager:in in der Führung eines Betriebes • Eine fundierte Führungsausbildung • Vorzugsweise Kenntnisse im Bereich Organisationsentwicklung/Qualitätsmanagement • Empathie, sowie konzeptionelles und vernetztes Denken • Unternehmerisch-innovatives Denken und Handeln • Achtsame, adressatengerechte, klare und transparente Kommunikation • Freude an repräsentativen Auftritten Haben wir Ihr Interesse geweckt? Das vollständige Inserat finden Sie mit dem QR-Code. Wir freuen uns auf Ihre vollständige Online-Bewerbung. Kontakt: Elise Tel, elise.tel@artiset.ch, T +41 31 385 33 63

ARTISET 01/02 I 2023 17 der Bewohnerinnen und Bewohner attestiert. Die geäusserten Empfehlungen seien bereits zu einem grösseren Teil von der entsprechenden Abteilung beim Kanton benannt worden. Es liege aber im Ermessen des Heims, diese umzusetzen, da sie sich nicht auf eine mangelnde Pflegepraxis beziehen. Auf Anfrage des Magazins Artiset meint die Medienstelle der Senevita AG, man nehme die geäusserten Empfehlungen ernst. Und: «Es ist für uns immer eine Chance zur Verbesserung, wenn externe Organisationen unsere Arbeit untersuchen.» Die Senevita-Heime würden intern und extern regelmässig auditiert, heisst es weiter in der schriftlichen Stellungnahme. Senevita nähme insbesondere auch das Thema Gewalt sehr ernst. Vor Kurzem habe man als erste Institution in der Schweiz eine Zusammenarbeit mit der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) eingeführt, «um eine möglichst niederschwellige Beratungs- und Meldestelle anbieten zu können, die neutral und unabhängig arbeitet». Es braucht genügend ausgebildetes Personal Die Beobachtungen der Kommission in ihren ersten beiden veröffentlichten Berichten dürften auf viele Heime in der Schweiz zutreffen. «Es besteht generell eine hohe Sensibilität, im Sinne und zum Wohl der Bewohnenden zu arbeiten», sagt NKVF-Präsidentin Regula Mader nach dem Besuch von mittlerweile mehreren Pflegeheimen. Sie sieht aber in verschiedenen Bereichen Spielraum für Verbesserungen, vor allem bei der Reflexion freiheitseinschränkender Massnahmen. In den Heimen bestehen in aller Regel konzeptionelle Grundlagen, so Mader, «der Detaillierungsgrad ist aber sehr unterschiedlich und die Praxis stimmt nicht immer mit dem Konzept überein. In der Dokumentation wird oft nur der Entscheid festgehalten und nicht die Begründung für eine bestimmte Massnahme oder welche anderen, weniger einschneidenden Massnahmen man sonst noch ausprobiert hat.» «Wichtig ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass solche Massnahmen die Bewegungsfreiheit einschränken und deshalb auch regelmässig auf ihre Notwendigkeit geprüft werden müssen.» Regula Mader verweist auf eine Reihe bereits bestehender Empfehlungen und Grundlagen, auch vom Branchenverband Curaviva, die die Institutionen dabei unterstützen, freiheitseinschränkende Massnahmen zu reduzieren respektive sogar ganz darauf zu verzichten. Damit dies gelingen kann, brauche es neben klaren konzeptionellen Vorgaben mit definierten Prozessen auch eine gemeinsame Wertehaltung und den Willen, solche Massnahmen möglichst zu vermeiden und die Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu fördern. Erforderlich dafür sei die Sensibilisierung der Mitarbeitenden mittels entsprechender Weiterbildungen und, wie Regula Mader betont, «genügend ausgebildetes Personal auch am Abend und am Wochenende». Denn: «Nur mit genügend Personal besteht die Möglichkeit zu einer individuellen Begleitung, was Auswirkungen hat auf die Anwendung freiheitseinschränkender Massnahmen.» Fachlich gute Konzepte, eine gemeinsame Wertehaltung, die Sensibilisierung und Schulung des Personals einschliesslich einer genügenden Zahl von Pflegenden und Betreuenden seien generell von grosser Bedeutung, so Regula Mader, um in sozialmedizinischen und sozialen Institutionen die menschenrechtlichen Standards erfüllen zu können. Die Berichte finden Sie hier: ➞ nkvf.admin.ch/nkvf/de/home/publikationen/ «Erforderlich sind eine gemeinsame Wertehaltung und der Wille, Massnahmen zur Freiheitseinschränkung möglichst zu vermeiden.» Regula Mader, Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) Im Fokus

18 ARTISET 01/02 I 2023 Neu für alle: Digitaler Bündner Standard Die Gesichter hinter dem Bündner Standard: Beat Zindel, Angela Hepting und Martin Bässler (von links) prägten die ursprüngliche Version und arbeiten auch im Kernteam des digitalen neuen Standards mit. Foto cw

ARTISET 01/02 I 2023 19 Im Fokus Eingebettet in eine schöne Gartenanlage, mit Blick auf die umliegenden Bündner Berge, liegen das Schulheim und die Verwaltung der Stiftung «Gott hilft» in Zizers. In den verschiedenen Institutionen der Stiftung finden seit 100 Jahren Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen oder mit besonderen Bedürfnissen ein neues Zuhause. In Graubünden, unter dem Bündner Spital- und Heimverband, entstand vor einem Dutzend Jahren auch ein Instrument namens «Bündner Standard», welches mittlerweile schon unzähligen Institutionen Richtlinien für einen professionellen Umgang mit Grenzverletzungen im Kinder- und Jugendbereich gibt. Dieses hat sich in der Praxis sogar derart gut bewährt, dass es künftig nicht nur für sozialpädagogische Einrichtungen, sondern auch für Regelschulen, Sportvereine, Alterspflege- und andere Institutionen angewandt werden soll. Dafür geht der Standard, der bisher als gedrucktes Handbuch in Form eines grossen Ordners bestellt werden konnte, neue Wege: Das Angebot wird künftig digital verfügbar gemacht. Die Website ist bereits als «Lightversion» online und wird laufend ergänzt. Der Bündner Standard, 2011 in Institutionen des Kinder- und Jugendbereichs entstanden, unterstützt diese darin, Grenzverletzungen zu vermeiden und Geschehenes aufzuarbeiten. Jetzt entwickelt er sich: Ab Frühjahr ist der Standard online verfügbar und kann neu auch für Institutionen im Bereich Alter oder Behinderung, aber auch für Sportvereine und Regelschulen genutzt werden. Von Claudia Weiss Damit die Lancierung im Frühjahr stattfinden kann, arbeiten die Mitglieder des Kernteams zurzeit intensiv daran: Sie bereiten die Unterlagen für die Digitalisierung auf und adaptieren sie, damit der erweiterte Bündner Standard neu in verschiedenen Bereichen genutzt werden kann. Digital heisst auch flexibel Diese Modernisierung sei nötig, erklärt Bässler: Der Ordner sei zwar praktisch handhabbar gewesen, aber eben auch statisch. «Die Digitalisierung erlaubt uns jetzt, die Inhalte laufend weiterzuentwickeln und beispielsweise auch eine Plattform zum Erfahrungsaustausch anzubieten.» Und, wie sich gezeigt hat, ist auch eine konstante Begleitung sehr gefragt: «Diese hilft uns, die Qualität zu erhalten, indem wir Einführungs- und Weiterbildungsangebote zum Standard aufschalten können», erklärt Bässler. Die grösste Stärke des Standards bleibe aber auch in Zukunft, dass er dank seiner Rundumsicht für alle beteiligten Personen präventiv wirke, ergänzt Beat Zindel, Mitglied des Kernteams. «Ausserdem funktioniert er ganz einfach, nach dem Prinzip aus der Praxis für die Praxis.» Neuerdings aber soll er flexibel auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten der jeweiligen Zielgruppen angepasst werden können. Im Lauf der Jahre ist zudem unübersichtlich geworden, wie viele Institutionen den Standard überhaupt anwenden – und in welcher Form. Martin Bässler, der wie alle Mitglieder des Kernteams bereits die Grundlagen des ursprünglichen Bündner Standards erarbeitet hat, findet allerdings wichtig, dass alle den Standard auch so anwenden, wie er gedacht ist: «Er soll ein Mittel zur Prävention und Bearbeitung sein und nicht als Bestrafung oder als Druckmittel eingesetzt werden.» Insgesamt sei die Schwelle für Grenzverletzungen heute niedriger als vor Jahren, der Druck grösser, die Frustrationstoleranz geringer. Das, findet Bässler, sind gute Gründe dafür, ein Instrument zu verfeinern, das hilft, die Grundhaltung einer Institution zu prägen und sie imHandhaben schwieriger Situationen zu unterstützen. Bis alles online ist, werden Martin Bässler und Beat Zindel mit den anderen Mitgliedern des Kernteams noch unzählige Stunden Denkarbeit in ihr Projekt stecken. Grundlage des

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